Büchervorschau

"Bin ich noch in meinem Haus?"

Die letzen Tage Gerhart Hauptmanns.

Mit einem Nachwort herausgegeben von Günter Gerstmann.

Nachdruck der Stiftung Martin-Opitz-Bibliothek Herne 2004.
ISBN 3-923371-24-1

Für die Schlesier, besonders aber auch für deren Kinder und Enkelkinder ist das Schicksal Gerhart Hauptmanns so fesselnd und spannend wie in einem modernen Kriminalroman geschrieben und es ist doch erlebte Geschichte. Nachstehend die Rezension des polnischen Germanisten Prof. Eugeniusz Klin, erschienen im Eichendorff-Heft Nr. 6/2004

Eugeniusz Klin


Die letzten Tage Gerhart Hauptmanns

Genau fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung von Gerhart Pohls bedenkenswertem Bericht über Hauptmann Bin ich noch in meinem Haus. Die letzten Tage Gerhart Hauptmanns hat die "Stiftung Martin‑Opitz‑Bibliothek" eine Neuerscheinung dieses Buches herausgegeben (Herne 2003). Das die Neuausgabe begründende und auch bewertende Nachwort dazu verfasste der bekannte, aus Schlesien stammende Literaturkritiker Günter Gerstmann. Da Gerhart Hauptmann als einziger schlesischer Nobelpreisträger für Literatur nicht nur für Niederschlesier, sondern auch für die heutigen Oberschlesier immer noch eine Symbolfigur ist, scheint es sinnvoll, auf dieses überaus spektakuläre Buch näher einzugehen.

Die Lektüre dieses Berichtes muss jeden aufrichtigen Leser und Kenner von Hauptmanns Werken zutiefst erschüttern. Das Buch beginnt mit den Todesahnungen und dem wachsenden Wissen des greisen Schriftstellers um die "unvermeidliche Katastrophe Deutschlands" zu Beginn des Jahres 1945. Es blieb dem großen deutschen Dichter und Tragiker nicht erspart, diese Katastrophe in mehreren Phasen an eigenem Leibe zu erfahren.

Die erste Station dieser leidvollen Erfahrung bildete Dresden. Dorthin hatte sich der kränkelnde und hypochondrische Schriftsteller am 5. Februar 1945 begeben, um im Sanatorium in Oberloschwitz, einem peripheren Stadtteil Dresdens, Heilung zu suchen.

Gleichzeitig wurde seine gallenkranke Frau Margarete im städtischen St. Hedwigs‑Krankenhaus behandelt. Doch gerade in diese Zeit des Aufenthalts in Dresden, das nach Hauptmanns Meinung bis dahin unter "dem Schutz der Götter" gestanden hatte, fand die schreckliche Bombardierung Dresdens statt, die die Stadt in ein "zweites Sodom" und ein "Flammenmeer" verwandelten: "Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens", sagte der gebrochene Dichter auf dem Rückweg nach seinem heimatlichen "Haus Wiesenstein" in Agnetendorf. Geistig und körperlich schien Hauptmann danach wie gelähmt. Denn noch verfasste der Dichter eine ergreifende Trauerklage auf Dresden, die in einigen deutschen Rundfunksendern verlesen wurde. Sie gipfelte in der Bitte "Gott möge die Menschen mehr lieben, läutern und klären zu ihrem Heil als bisher".

Die nächste Phase seines Leidens musste der alte Mann in Agnetendorf erleben, als die Rote Armee kurz nach der Kapitulation des III. Reiches im Riesengebirge einmarschiert war. Durch einen glücklichen Hinweis Gerhart Pohls, der im nahen Wolfshau wohnte, erfuhr der kommandierende und literarisch gebildete Oberst Smirnow von Hauptmanns Anwesenheit in Agnetendorf und stellte ihn unter den Schutz der sowjetischen Besatzungsmacht. Weniger glücklich verliefen aber die Gespräche mit Vertretern der nachrückenden polnischen Administration. Zwar wird die Unterredung mit dem berühmten Kunsthistoriker Professor Lorenz aus Warschau recht positiv geschildert, aber es mehren sich Übergriffe polnischer Beutesucher und Plünderer, bevor dann die aus Ostpolen vertriebenen polnischen Umsiedler in größeren Scharen eintrafen.

Eine positive Rolle spielte der Präsident des Berliner Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Johannes R. Becher. Er besuchte Hauptmann in Agnetendorf und versuchte den greisen Dichter zur Teilnahme am geistigen Wiederaufbau Deutschlands zu gewinnen. Anfänglich sagt Hauptmann dem Vorschlag zu, aber dann bringt er es doch nicht übers Herz, seine geliebte Heimat zu verlassen und entscheidet sich, bis zum Ende seiner Tage in Agnetendorf zu verbleiben und dort in der geliebten schlesischen Erde begraben zu werden. Aber auch diese Hoffnung Hauptmanns war schließlich nicht aufgegangen. Nach seinem Tode am 06. Juni 1946 wurde Hauptmanns Familie von einem sympathischen Polen die Nachricht vermeldet, dass polnische Plünderer im Geheimen planen, das Hauptmannsche Grab nach Kostbarkeiten und Wertsachen zu durchsuchen. Um der dadurch drohenden "Leichenschändung" vorzubeugen, wurde beschlossen, die Leiche des Dichters, verschlossen in einem Zinksarg, auf die Insel Hiddensee zu bringen, um sie dort in Ruhe bestatten zu können. Der von der Sowjetarmee, in Absprache mit der polnischen Verwaltung, zur Verfügung gestellte Sonderzug verwirklichte diesen Plan unter ungemein abenteuerlichen Bedingungen, die aber allesamt glaubwürdig und sachgetreu geschildert werden.

Letzteres trägt besonders dazu bei, dass sich dieses Buch so fesselnd und spannend liest wie ein moderner Kriminalroman, nur dass der Ausgang im ganzen als niederschmetternd empfunden wird. Viele Episoden tragen zur historischen Aufklärung des modernen Lesers bei, aber auch zahlreiche Fragen werden durch dieses dokumentarische Buch aufgeworfen.

Eine der Fragen, die sich nach der Lektüre stellt, wäre das Problem, warum sich denn im Prinzip die sowjetische Besatzungsmacht viel stärker für den Schutz Gerhart Hauptmanns, seiner Familie und seiner Freunde eingesetzt hat, als die Vertreter der polnischen Verwaltung. Eine Antwort auf diese Frage ist zum Teil in der viel größeren Verbreitung von Hauptmanns Werken in Russland und der späteren Sowjetunion zu suchen als in Polen. Besonders Hauptmanns frühe, sozialkritische Werke haben geradezu einen Hauptmann‑Kult unter den gebildeten Russen bewirkt. Dazu kam die langjährige Freundschaft des deutschen Dichters mit Maxim Gorki, sein Aufruf zur Unterstützung der 1922 hungernden 30 Russen; aber auch die frühe Gesamtausgabe seiner Werke in russischer Übersetzung bereits im Jahre 1902, also noch 4 Jahre vor der ersten deutschen Gesamtausgabe. Im Gegensatz dazu wurden Hauptmanns Werke in Polen damals weniger stark rezipiert, weil die nationale Thematik oft über die soziale gestellt wurde. Erst in den letzten Jahren beschäftigt sich die polnische Germanistik verstärkt mit der wissenschaftlichen Bearbeitung von Hauptmanns Schaffen.

Eine andere Frage drängt sich dem Leser auf, wenn das Verhältnis des Schriftstellers zum Naziregime angedeutet wird. Der Leser kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Hauptmanns Widerstand gegen den totalitären Hitlerstaat völlig unzureichend war. Es ging dem großen Dichter "nicht um politische Opposition gegen den Nationalsozialismus", sondern nur um die Ablehnung von "Schemaphrasen und unzulässige Verallgemeinerungen". Von einem Nobelpreisträger aber, der noch im Kaiserreich zu einem unverbesserlichen Oppositionellen gezählt wurde, hatten die deutschen Demokraten viel mehr erhofft und sahen sich in Hauptmanns Haltung sehr getäuscht. Zwar bringt das Buch Gerhart Pohls mehrere Beispiele dafür, wie sehr der Schriftsteller die verderblichen Rassetheorien der Hitlerregierung ablehnte und z.B. Bebel, Rathenau, Briand und Stresemann zu den "unvergesslichen Persönlichkeiten" zählte, unabhängig von ihrer jüdischen Herkunft. Aber dieser Widerspruch fand nicht öffentlich statt, sondern nur im kleinen Kreis, wodurch ihm keine gesellschaftliche Wirkung zuteil wurde. Eine teilweise Erklärung für diese auffallende politische Zurückhaltung, die ihm von vielen Kritikern bis heute übel genommen wird, wäre in dem hohen Alter und der damit verbundenen opportunistisch gedeuteten Lebenshaltung zu sehen, vielleicht in Hauptmanns Gewöhnung an Luxus und Wohlleben, die ihm z.B. im Exil abhanden gekommen wäre. Die Lektüre des Buches von Pohl bringt mehrfach Belege dafür.

Schließlich entstünde noch eine andere wesentliche Frage: Was hatte Gerhart Hauptmann in der Situation der totalen Katastrophe Deutschlands im Jahre 1945 seinen Mitbürgern auf den Weg zu geben? Worauf beruhte seine geistige Botschaft? Hierzu bietet das Buch Gerhart Pohls interessante Aufschlüsse, unabhängig davon, ob der Leser sie für angemessen oder aber für fraglich beurteilt. Im Vordergrund von Hauptmanns Botschaft steht die Ablehnung des Krieges. So heißt es z.B. "Jeder Krieg ist eine Prüfung". Oder an anderer Stelle: "Die Weltgeschichte ist ausgerutscht". Radikaler dann die Kritik Hauptmanns an seiner Zeitgeschichte: "Überhaupt ist die Verdünnung, ja Auflösung der Substanz des Christentums die eigentliche Lebensquelle der modernen Barbarei, die unter Hitler, u.a. auch in Polen und unter Stalin u.a. auch in Ostdeutschland triumphierte". Kurz vor seinem Tode dann äußerte der sterbenskranke Schriftsteller im Gespräch mit dem polnischen Journalisten Stefan Trzciński seine Überzeugung: "Deutschland wird sich durch die Arbeit des gesamten Volks bald emporarbeiten. Den Glauben werde ich nicht verlieren". Aus heutiger Sicht können wir konstatieren, dass die prophetischen Worte inzwischen verwirklicht wurden.

Trotz seiner tragischen Aussage enthält Pohls Buch über die letzten Tage Gerhart Hauptmanns auch einigen Hoffnungsschimmer. Dazu gehören die vielen Kontakte mit Vertretern der sowjetischen Besatzungsmacht, wie etwa mit dem sehr positiv gezeichneten Oberst Sokołow oder Major Kałaschnikow, aber auch mit einigen Vertretern der polnischen Verwaltung wie mit Professor Lorenz oder dem Landrat Górka, der die Trauerrede an Hauptmanns Grab gehalten hatte. Wenn heute im ehemaligen "Haus Wiesenstein" ein polnisches "Gerhart Hauptmann‑Museum" (in Jagniątków) errichtet wurde, wo internationale Literaturbegegnungen stattfinden, sollten wir uns ausführlich informieren, wie die Vergangenheit dieses Hauses ausgesehen hat. Das Buch Gerhart Pohls über Die letzten Tage Gerhart Hauptmanns kann wie wohl kein anderes dazu beitragen.

Prof. Dr. Eugeniusz Klin,
geb. 1931 im oberschlesischen Karf (b. Beuthen),

Direktor des Instituts für Germanistische Philologie an der Pädagogischen Hochschule (jetzt Universität) in Grünberg (Zielona Góra).

Zahlreiche Arbeiten zu Werken von Schriftstellern schlesischer Herkunft aus Vergangenheit und Gegenwart, von Andreas Gryphius bis zu Horst Bienek; vorwiegend unter dem Aspekt ihrer persönlichen oder thematischen Verbindung mit dem polnischen Nachbarvolk und seiner Geschichte.

Günter Gerstmann,
geb. 1933 in Weißstein (Kreis Waldenburg, Niederschlesien). Seit 1947 in Thüringen. Studium der Germanistik/Geschichte an der Universität Greifswald.
Seit 1965 in Jena als Publizist und Literaturkritiker tätig; Arbeiten zu Autoren wie Armin Müller, Hanns Cibulka, Walter Werner sowie zu Carl und Gerhart Hauptmann.

Wegen "Hetze und Propaganda" mehrjährige Haftstrafe in der DDR.

Freundschaft mit Gerhart Pohl (1902 – 1966), dessen Hauptmannbuch "Bin ich noch in meinem Haus?" er in einem Nachdruck herausgab.

Eine schöne Erinnerung an Gerhard Hauptmann ist das nachstehende Schreiben von Margarete Hauptmann an den damaligen Oberschüler Günter Gerstmann aus dem Jahre 1951.

"Herrn Oberschüler Günter Gerstmann mit herzlichem Dank für sein ergreifendes Gedicht unverlierbare Sendung und für das freundliche Meingedenken."

Margarete Hauptmann, 1951

Ullrich Junker, Mörikestr. 16, D – 88 285 Bodnegg

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