Quelle: "Sein Riesengebirge * Erzählungen und Geschichten" von Eduard Rudolf Petrak um 1870

Ein reiches Dorf

Von Eduard R. Petrak

Es liegt ein Dorf im Hochgebirge. Das ist eigentlich nichts merkwürdiges, denn es liegt nicht allein da; es ist aber ein Dorf, das sich eines ganz bedeutenden Wohlstandes erfreut und dieß, dünkt mir, ist sehr merkwürdig, zumal das Dorf am Südabhange sich befindet und männiglich bekannt ist, dass in unseren Riesengebirgs-Dörfern nur Noth und Elend wohnen; geistiges Elend und leibliche Noth – sie gehen da Hand in Hand wie immer.

Eine Ausnahme davon bildet indeß unser Dorf seit noch nicht vielen Jahren. Ehedem war es ebenso schlimm daran, wie heutzutage die anderen noch und wol auch schlimmer. Entlegen von allen Verkehrswegen, sah es nur alle Jubeljahre einmal Fremde, die in der bescheidenen Schenke kurze Rast hielten. Klein, morsch, windschief und baufällig hingen die weitzerstreuten hölzernen Bauden an den steil empor strebenden Abhängen und ein halbwegs kräftiger Sturmwind, vor welchem sie zum Glück durch ihre Lage leidlich geschützt waren, hätte in einem Nu ihre Firste sammt und sonders zu Thale gebracht.

Unterzog man eine derselben näheren Betrachtung, so konnte diese nur zu ihrem Nachtheile enden. Über die schmutzige, holperige Brücke [1] gehend, vor welcher der schlecht gepflegte Düngerhaufen die Luft, die in den Bergen in solch köstlicher, würziger Frische fluthet, verpestete, trat man über die verfaulte Schwelle der niedrigen Thüre, nachdem man den Holzriegel, der das Schloß vertrat, mittelst einer Schnur in die Höhe gehoben, in den engen finsteren Hausflur, aus dem man sich nach einigem Herumtappen in die Stube zurecht fand. Diese, das konnte man sehen, war einst gedielt; einzelne Brettüberbleibsel verriethen das noch sehr deutlich. Hinter dem Kachelofen, der auf hölzernen Füßen ruhte und dem Backofen, dem ein verfehltes Dasein zu Theil geworden, stand ein Bett, in dem sich außer halbverwestem Stroh zuweilen auch ein Strohsack fand. An der Breitseite der Stube, vor der sie einnehmenden langen Bank, befanden sich ein oder zwei wackelige Tische und in der linken Thürecke lehnte neben dem alten Schüsselbrett, wenn es gut ging, ein Butterfaß und ein Käseständer mit den kleinen Formnäpfchen voll Topfen. Über dem einen Tische, der in einer der vier von den schwarzen, wurmstichigen Wänden gebildeten Ecken stand, hingen hart neben einander zahlreiche Heiligenbilder und zuweilen auch die Portraits des Kaiserpaares aus dem Jahre 1854; diese erkannte man freilich erst, wenn man die Überschrift gelesen hatte – falls sie überhaupt noch leserlich geblieben. Die winzigen mit Blei überreichlich durchflochtenen Scheiben der kleinen Schiebefensterchen machten dem Tageslichte und der frischen Luft das Eindringen recht sauer, daher in der Stube stets Halbdunkel und eine dumpfe, mit allerlei üblen Gerüchen geschwängerte Atmosphäre herrschte. Obwol die Bewohner von dem rauhen Klima ihrer Berge, in welchen der Winter 7 – 8 Monate währt, abgehärtet waren, liebten sie doch selbst zur Sommerzeit eine für Andere unerträgliche Hitze.

Und in diesem Raume zusammengepfercht wohnten manchmal fünf und mehr Familien mit zehn, zwanzig Personen und darüber! Waren sie alle daheim, gab es ein buntes Durcheinander und Eines hatte vor dem Anderen nicht Raum. Die armen Kleinen, deren Mütter häuslichen Verrichtungen nachzugehen hatten, waren sich selbst überlassen, wenn nicht die altersschwache Großmutter, die nicht mehr viel schaffen konnte, sich ihrer erbarmte. Abgesondert von den anderen nahm jede Familie das karge Mahl ein, das aus nichts weniger als nahrhaften Speisen bestand; Kartoffeln und Kaffee bildeten den Kern. Das Brod, das die Leute für baares Geld kaufen müssten, war theuer und durfte nicht vergeudet werden. Wer es weiß, dass mancher Gebirgsbewohner erst dann satt ist, wenn er das Gewichtder Nahrung im Magen spürt, der wird begreifen, dass er oft den Tisch verlassen muß, ohne satt zu sein. Im Winter bildeten die kalten feuchten Dielen, im Sommer der Heuboden das gemeinschaftliche Lager Aller. Daß Anstands- und Sittlichkeitsgefühle in solchen Massenwohnungen nicht zunehmen, ist bekannt.

Unter den Hausbewohnern schien der Wirth, der Besitzer des Hauses noch am besten daran; doch will das nicht viel heißen. Freilich waren im Stalle eine wohlgenährte Kuh und zwei Ziegen sein, am Rande des Waldes lag ein Erdäpfelfeld, von dem er zu ärnten hoffte und das Haus umgab eine herrliche saftige Wiese, die reichliches, gesundes Futter für die Wiederkäuer lieferte und zu der die elende Menschenwohnung in argem Gegensatze stand; allein das Ganze war eigentlich nicht sein Eigenthum. Als Erbzinsmann hatte er von dem emphyteutischen Grundstücke einen für seine Verhältnisse großen, in längeren Zwischenräumen wachsenden Zins an die Herrschaft zu entrichten, der ihn drückte und ihm in Jahren schlechter Heuärnte oder da Unglück seine ohnehin kleine Heerde verringerte, fast unerschwinglich war.

Sein Groß- oder Urgroßvater hatte einst das vom Walde kahl abgetriebene Rodland, einen argen, wenig versprechenden Felsboden, für verschiedene geleistete Dienste um ein Geringes in Erbzinsgenuß erhalten und sein Leben lang an der Urbarmachung mühsam gearbeitet; davon erzählen heute noch die langen, das Feldstück umgrenzenden, aus über einander geschichteten Steinen und Felstrümmern aufgeführten Mauern und die riesige Geröllhaufen hier und da. Als aber die Zeit kam, in welcher er oder die Erben aus dem leidlich kultivirten Boden, dessen Werth durch ihre Hände Arbeit verzehnfacht worden, einen Nutzen ziehen konnten, ward ihnen der Grundzins erhöht. So hatte die Mühe für ihn nur wenigen Erfolg gehabt und seine Arbeit nicht den gehofften Segen. Auch die Weide- und Holzgerechtigkeit, deren sich die Vorfahren erfreuten, wurde den Nachkommen aus Rücksicht für die Forstkultur theilweise oder ganz entzogen und der vordem bedeutende Viehstand, der einzige Reichthum des Gebirgsbewohners, sank in Folge dessen tief herab. Die Wirthschaft nährte jetzt nur zur Noth ihren Mann und er hatte nichts übrig, falls er nicht vorzog, auf krummen Wegen zu erreichen, was ihm auf geraden nicht gelingen wollte. [2] So war der Wirth nicht der Beneidenswertheste und nicht viel besser daran seine Hausleute. Diese verdienten ihr Brod als Holzschläger, Holzrücker, Flösser, Strassen- oder Fabrikarbeiter oder sie trugen das im Walde aufgelesene Klaubholz und die Zapfen der Nadelbäume stundenweit nach der Stadt zum Verkaufe, um dafür einige wenige Kreuzer zu lösen. Selten hatte Einer ein Handwerk erlernt und war dieß der Fall, dann hatte er sich noch weit seltener bis auf dessen goldenen Boden durchgearbeitet.

Die Kinder hatten eine freudenlose Jugend. Kaum waren die schwachen Glieder fähig, diese oder jene Arbeit den Ältern abzunehmen, so wurde sie ihnen aufgebürdet und waren sie so weit gekommen, dass sie die Hocke [3] zu tragen im Stande waren, dann mussten sie tagaus, tagein eine ihre Kräfte oft übersteigende Holzlast zur Stadt schleppen.

Fröhlicher ging es dagegen zu, wenn im Busche die "ruthen und schworzen Beer, die Himpel- und Proißelbeer" reif geworden waren und die braunen "Schwomma" aus dem grünen Moose hervor lugten. Mancher Gulden ward von den emsigen Sammlern verdient, dass die Ältern zur Kirmeß für den Buben "of a noichs Röckla" für das Mädel auf ein "Kittala" erübrigen konnten und wenn auch die Glashändler zehn bis fünfzehn Kreuzer vom Tausend [4] zahlten, gab es für das junge Volk Verdienst genug. Man könnte den in Geldsachen sehr genauen Gebirgsbewohner für geizig halten, wüsste man nicht, wie schwer ihm das Verdienen wird.

Wer aber dabei schlecht wegkam, das war der "Schullehrer". Den Sommer über konnte er sich die Seele heraus ärgern, ohne dem "Beer- und Schwommagihn", wodurch der Unterricht versäumt wurde, steuern zu können. Traf dann auch noch ein recht böser Winter ein, so stand er an manchem Tage vor leeren Bänken [5]. Wieso wurden sie "Schwatzer" genannt?
Die Folgen hievon und von mangelhafter Hauserziehung (sofern von Erziehung überhaupt die Rede sein darf) zeigten sich bei dem heranwachsenden Geschlechte sehr deutlich. Bei den Kleinen, die das erstemal zur Schule gingen, waren die fünf Sinne weniger entwickelt, als die Fertigkeit im Lügen, als die Sucht zur Angeberei und ein Heer von Unarten. Die unbewusste häufige Verletzung des Anstandes, selbst durch ältere Schüler, legte Zeugniß davon ab, wie es mit diesen Dingen in manchem Älternhause beschaffen war. –

So sah es in gar vielen Bauden aus. Von Noth in landläufigem Sinne konnte im eigentlichen Gebirge nicht gut die Rede sein, denn so lange die Glieder ganz waren und der Körper nicht siechte, gab es Erwerb und Speise; aber dieser karge Erwerb durch harte, schwere Arbeit, der den Einwohnern gebot, sich die einfachsten Genüsse, ja selbst das Nothwendige zu versagen, die ungünstigen Bedingungen geistiger und leiblicher Entwicklung, x. x. – dies waren doch drastische Illustrazionen einer Noth, deren Wurzeln, täglich erstarkend, mit ihren feinsten Fasern das gesammte Volksleben zu durchsetzen drohten und über deren völliger Ausrottung Menschenalter vergehen mussten!

Ich sagte: es sah in vielen Bauden so aus; wol – aber nicht allen. Dieser und jener Nachbar besaß ein stattliches, geräumiges Haus, ein halbes Dutzend Kühe im Stalle, den Hausboden voll des köstlichsten Futters und den Keller voll Milch und Butter; auch hätten kaum die Finger seiner beiden Hände hingereicht, die Bauden darauf herzuzählen, auf denen sein Geld stand. Durch Holz-, Vieh-, Butter- und Käsehandel, hatten sie sich´s redlich erworben; nur von Wenigen wusste man nicht, wie sie dazu gekommen. Es waren eben einmal andere Zeiten gewesen; der Schleichhandel florirte und der Förster war im Forste nicht zu Hause. Kein Mensch sah sich darnach um, wenn aus den Busche ein paar "Stangen" geholt wurden. Im Punkte "Holz" sind manche Höhenbewohner ausgesprochene Freigeister – wächst es doch in den ausgedehnten Wäldern in solcher Menge!

Dies ist eine treue Skizze davon, wie es einst im Innern unseres Riesengebirgs-Dorfes aussah; sie ist trüb, sehr trüb, allein sie wäre es noch mehr, wenn dies durchweg die Regel gewesen wäre. Zum Glücke gab es noch genug Solcher, die sich das Herz am rechten Flecke erhalten hatten, und Ehrlichkeit und Biederkeit waren nicht verschwunden. Auswendig war es freilich anders. Die Gegend war schön, herrlich! Schildern will ich sie nicht, aber ich versichere nochmals, dass sie schön war. Die Dorfbewohner wussten dies zwar weniger, doch sah es jeder Tourist desto besser, der sich durch Zufall hierher verirrt. Jene würdigten die Pracht ihrer Heimat keiner Aufmerksamkeit; sie war ihnen zu alltäglich. Oft verwunderten sie sich über das zwecklose Herumkraxeln der Bergfexe und nahmen selbst Alles nur von der praktischen Seite; daher dünkten ihnen die Wälder dazu geschaffen, um Holz zu liefern, die Berge, um dasselbe im Winter leichter ins Thal bringen zu können und der in diesem rauschende Fluß, um es auf seinen Frühjahrswassern weiter zu tragen.

Heute – wie ist das Alles anders geworden außen und innen! Es ist nicht mehr dasselbe Dorf, das einst da gestanden, es sind nicht mehr dieselben Menschen, die vorhin darin gehaust. Den Ort verbinden Straßen mit der Außenwelt und erleichtern den Verkehr, Handel und Wandel; in den smaragdgrünen Grasgärten, zu denen sich nun auch bescheidene aber artige Blumen- und Gemüsegärtchen gesellten, stehen schmucke, freundliche Häuser, gebaut, wie sie den Bedürfnissen der Bewohner entsprechen und das größte und stattlichste darunter ist – die Schule, in welcher der Lehrer über nachlässigen Schulbesuch nicht klagen muß, da es den Ältern nicht noth thut, ihre Kinder davon abzuhalten. Haus und Boden aber sind Eigenthum ihrer Bewohner geworden, denn die Herrschaft hat sich endlich herbeigelassen, den letzteren unter billigen Bedingungen käuflich abzutreten.

Werfen wir einen Blick in eines der Häuser; in welches immer, sie gleichen einander alle. Weite, helle, luftige Räume, Alles nett und reinlich, überall Ordnung und Harmonie. In der großen Stube stehen drei, vier, fünf Tische mit allerhand Schnitzereien und Werkzeugen bedeckt; auch ist da eine kleine Hobel- und eine Drechselbank. Die Familie beschäftigt sich mit der Verfertigung der mannigfaltigsten Holzwaaren. Dieser Industriezweig hat sich in dem Dorfe eingebürgert und freudig blüht und gedeiht er. Holz, Moos und Flechten, daraus sich die niedlichsten Dinge mit ein bischen Geschick und ein wenig Mühe anfertigen lassen, sind ja so leicht zu haben und die Waare findet guten Absatz. Wenige, welche die Höhen bereisen, kehren heim, ohne für sich oder die Ihren bald einen zierlichen geschnitzten Bergstock mit dem Haupte des Berggeistes gekrönt, bald Rübezahl selbst in Miniatur in hohen, schwarzglänzenden Kanonen, einem Rocke aus Rinde, mit kühner Adlernase, funkelnden Augen und dem langen, ehrwürdigen Barte aus Baumbartflechte, entweder eine Zigarrenspitze aus kunstvoll verschlungenen Fichten- oder Knieholzzweigen oder ein reizendes Schreib- oder Feuerzeug, das ein Raummeter Holz in verkleinertem Maßstabe darstellt, oder irgend ein anderes nicht minder hübsches Andenken mitzunehmen.

Die Viehzucht, der Eckstein des Wohlstandes der Einwohner, wird keineswegs vernachlässigt. Sie hat sich, razionell betrieben, mehr denn je entwickelt und ihre Erzeugnisse sind durch ihre Vorzüglichkeit weit bekannt und begehrt.

Die veränderte Lebensweise hat im leiblichen und geistigen Zustande der Leute einen erstaunlichen Umschwung zum Besseren bewirkt und wird in nicht allzu langer Zeit auch die letzten zurückgebliebenen Spuren der trüben Vergangenheit verwischen.

Der Name dieses Dorfes – ja, würde ich um den gefragt, so käme ich in nicht geringe Verlegenheit und müsste gestehen, dass das günstige Ende der alten Noth – ein Flexirbild war. –



[1] So heißt die steinerne Terasse, die sich auf der Gehängseite vor jedem Hause hinzieht und diesem als Grundlage dient; sie wird von dem Dache überragt und zur zeitweisen Aufbewahrung der verschiedensten Geräthe verwendet, trotzdem der die Wohngebäude unter einander verbindene Fußsteig gewöhnlich über dieselbe geht.

[2] Pascher, Wild- und Holzdiebe von Profession sind gegenwärtig zur Mythe geworden. Eine eigenthümliche Erscheinung ist es, dass sittliche Zustände vielfach in jenen Gegenden am meisten zu wünschen übrig lassen, welche mit den Sprachgrenzen zusammen fallen.

[3] Der bekannte Name für das Traggestell, das mittelst zweier Tragbänder über die Schulter gehangen wird und auf dem die größten Lasten fortgebracht werden. Stellenweise ist der Name "Krackse" gebräuchlich.

[4] Mit Sprengen von Glaskorallen beschäftigten sich namentlich im Herbst und Winter viele Menschen, zumeist Kinder; doch ist hierbei entstehende Glas- und Sandstaub den Athmungsorganen sehr schädlich. 10 000 Korallen werden für 1 (großes) Tausend abgewogen; der fleißigste Arbeiter schneidet 5 – 7 (große) Tausend täglich.

[5] Da an fast allen Gebirgsschulen Halbtagsunterricht besteht, ein Kind also nur vor- oder nachmittags zur Schule geht, reduzirt sich hier die achtjährige Schulpflicht von selbst auf 4 Jahre; von diesen vier Jahren entfällt aber im Hochgebirge noch ein gutes Jahr auf die Schulversäumnisse, so dass im Durchschnitt ein Schüler, streng genommen, ununterbrochen nur 3 Jahre die Schule besucht.


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