von Horst Schön, 21435 Stelle
Martha Bialek hat über unser Treffen
in Polkendorf bestimmt schon berichtet, deshalb möchte ich über das Treffen
nicht schreiben. Und doch ist die Geschichte, die mir schon lange auf den Nägeln
brennt, bestimmt wert, in unseren Kreisen ernsthaft und ohne ideologische Scheuklappen
zu diskutieren. Da ich schon seit vielen Jahren - eigentlich schon seit Jahrzehnten
- mich mit den Leuten, die aus welchen Gründen auch immer, sich mit den schlimmen
Folgen des Nationalsozialistischen Größenwahns nicht abfinden können, die heute
immer noch die Schuld Deutschlands am Krieg von 1939 1945 bestreiten,
diesen Menschen ist auch im Jahr 2010 wohl nicht mehr zu helfen. Also lassen
wir sie in ihrem Glauben, die Biologische Uhr tickt auch bei ihnen.
Nun zu dem Thema, das ich mir für diesen Beitrag reserviert habe. Es geistert
schon einige Wochen, nein Monate in meinem Kopf herum:
Es war mir in diesem Frühjahr vergönnt, wieder das Polkendorfer Treffen in Johannisbad
zu besuchen. Viele Jahre gehört dieses Treffen zu unserem Leben, viele liebe
Menschen sind nicht mehr am Leben, die den Gedanken an die Heimat immer wach
gehalten haben. Und auch in diesem Jahr haben sich einige der alten Polkendorfer
entschuldigt, weil sie die Strapazen der Reise nicht mehr ertragen. Gevatter
Tod hat unter ihnen seinen Anteil gefordert. Es waren vor allem die Menschen,
die in uns Jüngeren die Erinnerungen an vieles geweckt haben.
Diese Bilder habe ich heute noch vor Augen, wenn ich von einem Angehörigen der
jetzt in den früher von unseren Eltern oder Onkeln, Tanten bewohnten Häusern
schief angesehen, mit finsteren Blicken bedacht oder unfreundlich behandelt
wurde. Wenn man diese Menschen etwas näher kennen gelernt hat, erfährt man dann,
dass dies oft seine Ursache an Erlebnissen, schrecklichen Untaten unserer damaligen
politischen "Führer" und ihrer Vasallen hatte.
Wir hatten in Döbeln in Sachsen Zwischenrast gehalten und fuhren dann über Bautzen,
Löbau, Zittau über die Grenze Richtung Reichenberg. Mir sind die deutschen Namen
der nun tschechischen Städtenamen noch in Erinnerung. Aber als ich dann erst
über die polnische und dann auch über die tschechische Grenze fuhr, kein Grenzer
war zu sehen, es gab keinen Halt mehr, da beschlich mich ein ganz neues, bisher
noch nicht bekanntes Gefühl ich fuhr nicht mehr nach Polkendorf, um in
diesem 300-Seelen-Dorf unser früheres Hab und Gut zu suchen, ich gab mich ganz
diesem neuen Gefühl hin. Zuerst freute ich mich über die Fülle neuer Bauten
in einem besonderen Baustil, der sich große Mühe gibt, die alten Gebirgs"heislan"
nicht zu kopieren, die neuen Bewohner unserer Grundstücke bauen in einem dem
Land zukommenden Stil Privathäuser, Gaststätten und Hotels. Es gibt, das ist
sehr schlimm, große verschandelte, besser verschachtelte, Landstriche. Dabei
taten sich unsere westlichen Nachbarn, die Niederländer besonders hervor. Wir
haben uns diese brutale Verschandelung unseres Nachbartales mit genormten Bretterschachteln
angesehen, und waren erschüttert. Aber die tschechische Regierung ist heute
dabei, ihren Reichtum, die noch einigermaßen intakte Natur trotz aller Angriffe
von den Geschäftemachern der übelsten Art, zu erhalten.
Ein erstaunliches Beispiel von Liebe zu diesem Land "unter der Schneekoppe"
erlebte ich, als ich das im vorigen Jahr wieder eingeweihte Polkendorfer Kriegerdenkmal
1914 1918 das von den neuen Bewohnern unter grossen Mühen und vielen
Arbeitsstunden seinen alten Platz am Ortseingang Polkendorfs wieder gefunden
hat. Diese Aktion wurde von den alten Polkendorfer mit Geld und auch kräftigen
Armen, solange sie diese Kraft noch hatten, unterstützt. Die kleine Feier am
nun am alten Platz stehenden Kriegerdenkmal hat uns sehr beeindruckt, aber in
diesem Jahr haben die jungen neuen Polkendorfer, sie nennen sich so, eine maßgebende
neue Polkendorferin hat den Hof, den sie bewirtschaftet und der allerdings,
nimmt man es genau, noch in Hermannseifen steht, nach dem alten Ortsnamen Polkendorf,
heute Bolkov, benannt. Diese junge Frau, die sich die Aufgabe gestellt hat,
die Geschichte der alten Bewohner dieses schönen Tales nicht zu vergessen, sondern
möglichst viel aus dem Leben und den Menschen der vergangenen Jahrhunderte zu
erfahren und für die Nachwelt zu erhalten.
Wir erfuhren in diesem Jahr von einer Initiative der neuen Bewohner, die uns
sehr beeindruckt hat. Die evangelische Kirche in Hermannseifen war im Frühjahr
1945 völlig intakt, mit Orgel, Gestühl, Altar und was noch dazu gehört. Die
neuen Herren, die erst die deutschen Bewohner vertrieben hatten, ließen dann
in die deutschen Gebiete, wir sagten damals Zigeuner, heute nennen wir diese
Völker "Sinti" und "Roma", und wir wissen heute, dass diese
geschundenen und verfolgten Völker unglaubliches Leid von beiden Seiten erdulden
mussten. Nun waren sie plötzlich "Sieger", und sie benahmen sich so,
wie es von den neuen Herren gewollt war. Die evangelische Kirche wurde in sehr
kurzer Zeit buchstäblich "ausgeschlachtet", und dies sehr gründlich,
erst fiel der Turm, das Dach stürzte ein, die Fenster zerschlug man, Regen,
Frost und Wind erledigten den Rest. Die Gräber auf dem Friedhof wurden ausgeraubt,
auch die Grüften reicher Bauern geplündert, der Friedhof als Müllkippe genutzt.
Man kam noch vor kurzer Zeit kaum durch das Gewirr von Sträuchern und Bäumen
auf den Weg, der früher der einzige Zugang zum Kircheninnenraum war.
Man einer sagt, es gibt keine Wunder! Mir kam es an diesem Tag so vor, als hätte
sich hier, an dem Ort, an dem ich vor 77 Jahren in diese Welt hinein geboren
wurde, wo ich das Sakrament der Taufe empfing, diesen christlichen Ritus, nach
den Worten meiner Mutter: "Du hast geschrien von dem Moment, als wir mit
dir die Kirche betreten haben, und schlagartig warst du ruhig, als wir die Kirche
verließen!" mit dem einzigen mir zur Verfügung stehenden Mittel des Protests,
dem Geschrei, begleitete.
Wir erlebten an unserem Treffen in diesem Jahr etwas Ähnliches. Ich traute meinen
Augen nicht, als ich, inzwischen bin ich auch, so wie viele in meinem Alter,
etwas "gehbehindert" mit dem Auto zu der Kirchenruine, die einmal
meinen Eltern ihren ersten Hausstand boten, Vaters erste Lehrerstelle war an
der evangelischen Schule in Hermannseifen, und ich wurde in der Lehrerwohnung,
die sich im Anbau beim Friedhofseingang befand, geboren. Was bot sich unseren
Augen? Der Friedhof war von Wildwuchs befreit, die Bäume und Sträucher gerodet,
einige Grabsteine wieder ans Tageslicht geholt, die alten Grabreihen, so sie
noch zu finden waren, in die Reihe gebracht. Man will, so noch Aufzeichnungen
über die Belegung der Grabreihen irgendwo vorhanden sind, den alten Zustand
in etwa wieder darstellen. Was sagt man dazu?
Ich denke, dass es höchste Zeit ist, die alten Zöpfe abzuschneiden, sich von
dem Geist, besser dem Ungeist von unverbesserlichen Funktionären und ihren Gegnern
auf der tschechischen Seite die Wirklichkeit, die nicht mehr zu ändern ist,
anzuerkennen. Ich glaube an die Vernunft der Jugend, die ihr Leben noch vor
sich hat.