Quelle: Riesengebirgsheimat Heimatblatt für die ehemaligen Kreise Trautenau und Hohenelbe 8. Folge, August 1950
Als im Jahre 1869 Wenzel Hollmann,
der damalige Besitzer der Wiesenbaude, die sogenannte "Wasserradstube"
umbaute, stieß der Spaten auf einen Stein, der, grob behauen und mit der eingemeißelten
Jahreszahl 1623 versehen, sich als sichtbarster frühester Zeuge der alten Wiesenbaude
entpuppte. Er wird vielleicht noch heute seinen Ehrenplatz im Verandamauerwerk
der Wiesenbaude behauptet haben.
Dieser Findling dürfte aus dem steinernen Fundament stammen, auf dem nach dem
Brande im Jahre 1625 die Keimzelle der heutigen Baude im Angesicht der Koppe
erwuchs. Das einfache Blockhaus vor 1625 ragt mit seiner Geschichte in die Sage
hinein, in welcher das älteste menschliche Thema der Liebe und der Glaubenskampf
der damaligen Zeit den Stoff gestalteten.
Nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges wird die Sankt Laurentius-Kapelle
auf der Koppe in den Jahren von 1668 bis 1681 erbaut. Die Bauarbeiter entdecken,
so erzählen zeitgenössische Berichte, zu ihrem Erstaunen in der grenzenlosen
Einsamkeit der weißen Wiese eine Baude, in welcher die "Renner-Leute"
hausen.
Die geweihte Kapelle ist nicht der letzte Anlaß, daß der Besuch der Koppe in
den Sommermonaten sich immer mehr einbürgert und Hampel- wie Wiesenbaude sind
die Stationen vor der endgültigen Besteigung. In einem zeitgenössischen Bericht
heißt es, daß die Mehrzahl der Reisenden, obgleich sie zum Sonnenaufgang auf
der Koppe früh aufzubrechen hatten, ihre heiteren Unterhaltungen bis in die
späten Nachtstunden in der Baude aufrechterhielten, ohne Rücksicht auf die Ruhe
schweigsamerer Schlafgenossen zu nehmen. Mädchen und Frauen, junge Burschen
und alte Männer suchten sich, so gut es ging, im Heu eine Schlafstelle. In der
Baudenstube bildeten die Diele oder die Ofenbank die Ruhestätte. Der Gast, der
hier nächtigte, konnte dann beim Erwachen Zeuge eines interessanten Familienlebens
werden. Aus allen Ecken krochen die kleinen Wirtskinder, deren jede Baude eine
erstaunliche Anzahl beherbergte. "Ein einziges Röckchen wird vom Leibe
geschüttelt und dient als Kopfkissen, die harte Bank oder Diele dient als Unterbett,
Haut und Hemde sind die Decke."
Die Wiesenbaude galt schon in jenen Tagen nicht nur als alte, sondern auch als
reiche Baude, und als in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Kraft des
Weißwassers, arbeitend im sogenannten "Buttergewerke", ausgenützt
wurde, geriet durch diese technische Tat die Baude in vieler Leute Mund und
lockte immer mehr Besucher. Manch einer ergötzte sich daran, wie die findigen
Wirtsleute sogar die Wiege durch das Weißwasser treiben ließen.
Schon verhältnismäßig zeitig muß die Wiesenbaude auch im Winter eine Stammbesatzung
gehabt haben. W. Christian Weiß erzählt in seinen "Wanderungen in Sachsen
und Schlesien" (Leipzig 1796), daß die Wiesenbaude im Winter einen Viehstand
von 17 Kühen und 12 Ziegen, im Sommer mehr als den doppelten hatte. "Man
sieht überall Wohlhabenheit und in wirtschaftlichen Dingen sogar Überfluß in
ihr. Der Wirt war eben im Begriff, in ein böhmisches Städtchen zum Jahrmarkt
zu reisen, und wir sahen ihn dazu eine weiße Weste von gutem Sommerzeug mit
bunter Kante und einen ganz städtischen Rock anlegen."
Theodor Körner, der zu seinen Zeiten das Rübezahlgebirge
nicht nur wegen seiner landschaftlichen Schönheiten schätzte, sondern sein Herz
so beiläufig in der Alten Schlesischen Baude verloren hatte, war nach einem
alten Gästebuch am 21. September 1809 Besucher der Wiesenbaude, und es dürfte
nicht ausgeschlossen sein, daß auch Ludwig Richter wie Caspar David Friedrich,
die uns Riesengebirgsbilder jener Zeit schenkten, die bekannte Baude am Fuß
des Brunnberges besuchten.
Auch Karl v. Holtei übernachtete am 24. August 1818, von einer Koppenbesteigung
kommend, in der Baude. Er fand dort den Besitzer, "den Vater Renner, einen
heiteren Greis", Brot knetend, seine Frau, "ein kleines, bewuschpertes
(lebendiges) Figürchen", Käse machend, die Tochter Monika, "ein hübsches
Ding" und deren Bruder, "einen rüstigen Knaben vom Berge". Holtei
widmete der Wiesenbaude für´s Gästebuch ein längeres Sonett.
Als 1833 das alleinstehende Sommerhaus infolge stetig wachsenden Besucherstromes
erbaut werden muß, das durch seinen umbauten Verbindungsgang zum Haupthaus noch
in der Erinnerung vieler sein wird, schlug man an den damaligen Neubau folgende
Inschrift: "Erbaut in diesem Jahr, da die wahrheit noch Teuer war. Dieses
Haus stehet in Gottes Hand beim Augustin Renner wird es genannt. Anno 1833."
Unter der Obhut Jakob Renners, des Sohnes des eben Genannten, der ein vorzüglicher
Wirt war, ereignete sich die mysteröse Geschichte mit der Falschmünzerbande.
Fünf rätselvolle Gäste, hier oben aller polizeilichen Nachforschungen sicher
und wohl getarnt durch den dauernd wechselnden Besucherstrom, fallen dem Wirt
schon lange auf. Er erzählt einem Besucher, einem höheren böhmischen Justizbeamten,
von den eigenartigen Gästen. Als auf dessen Veranlassung eine umfassende Durchsuchung
der Baude angeordnet wird, entdeckt man erstaunliche Vorräte an silbernem Falschgeld
und das dazugehörige Werkzeug.
Herloßsohn, ein Wanderer aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, schildert 1849,
daß er zu seinem Erstaunen den gewaltigen Kachelofen der Wiesenbaude mitten
im Juli geheizt fand. "Landleute aus Böhmen, Handwerksburschen, Bergwanderer,
Führer überfüllten die geräumige Wirtsstube. Obgleich viel Wäschezeug um den
Ofen hing und sehr viele Pfeifen dampften, was einen unangenehmen Dunst verbreitete,
ward uns doch bald wohl auf behaglichem Sitz an einem Extratisch in der Wärme
bei einer Labung von Forellen, Wein, Eierkuchen, Koppenkäse. Auch fehlte lustige
Musik von Geigen, Clarinetten und Brummbaß nicht."
Jakob Renner, der tüchtige Wiesenbaudenwirt, schon einige Jahre im Ausgedinge
lebend, findet unterhalb der Kapelle am Paßsattel zwischen Brunn- und Hochwiesenberg
im Schneesturm den Bergtod, fast an der gleichen Stelle, wo 1798 sein Oheim
beim Holzfahren tödlich verunglückte. Auch die Tochter Monika ist an dieser
Stelle 1856 dem Erfrierungstode nahe. Ihr Junge Johann rettet sie im letzten
Augenblick. Drei Jahre vor diesem Unfall hatte eben ihr Mann, Wenzel Hollmann,
die Baude übernommen. Sein Sohn Johann Hollmann, der seine Mutter einst vom
Bergtode errettete, verkaufte die 1875 wesentlich aufgestockte Baude an Christoph
Häring ein Jahr nach der Erweiterung. Zehn Jahre später erwerben sie die Gebrüder
Bönsch, die aus der Wiesenbaude, nicht zuletzt mit dem rasch aufblühenden Wintersport
als Helfer, die "Wiese" zu der "kleinen Stadt" auf dem Kamme
machten, wie die meisten von uns sie noch in Erinnerung haben.
In der "Wiese", wie die Baude kurzweg im Mundgebrauch der Gebirgler
genannt wurde, trafen sich die Zünftigen Sommer wie Winter. Zum immerwährenden
Treffen der Gleichgesinnten und Gäste ließ Meister Soucoup die Zither klingen,
während auf enger und engster Tanzfläche die Paare in der rauchdurchwölkten
Luft zu tanzen versuchten. Derweilen flammte vom höchsten Punkt der mehrere
Stockwerk hohen Baude das starkkerzige Blinkfeuer durchs tobende Wetter, das
denen, die noch unterwegs waren, den Weg zur Baude wies. Den Strom für diese
Anlage und die gesamte Baudenbeleuchtung lieferte ein eigenes Elektrizitätswerk,
das von der Kraft des jungen Weißwassers, die einst auch das "Buttergewerke"
in Bewegung setzte, getrieben wurde. Seine Wartung besorgte u. a. auch Herbert
Beutel (heute Deggendorf im Bayrischen Walde). Er wurde einst in Ausübung dieses
Postens von einem Schneebrett im Weißwassergrunde verschüttet, von der Rettungsmannschaft
der Wiesenbaude (Otto Berauer, Emil Bönsch. Franz Ruhs, Adalbert Wießner und
Franz Klein) wie durch ein Wunder lebend geborgen. Die "Kölnische Illustrierte"
brachte seinerzeit dieses Riesengebirgserlebnis als gestalteten Tatsachenbericht.
Voll besetzt waren immer die Tische der "Skischule Wiesenbaude", die
durch die Namen der drei Berauer, Adolf, Otto und Gustel, dem späteren Skiweltmeister
der Nordischen Kombination (1939 Zakopane), zu einem Begriff des Riesengebirges
wurde. Adolf, der älteste, starb durch die Tschechen, Otto, der vitale, liebenswerte
Bursche, fiel im Kriege. Sein tiefbraunes Gesicht, in dem blau wie der Riesengebirgshimmel
an einem Märzsonnentage die Augen leuchteten, wird jedem, der ihn kannte, unvergessen
wie die Riesengebirgsheimat selber bleiben.
Als einziges sichtbares Andenken seines vielfältigen Skilehrer- und Rennläuferlebens
(Bürgermeister von Petzer war er auch später) hing an der Wiesenbaudenwand das
Foto seines Quersprunges vorn dorfkirchturmhohen Dach der Baude in die riesige
Schneewehe, die zum steten Winterinventar des Hauses auf der Koppenseite gehörte.
Ganz im dunklen Hintergrunde hinter dem langen Schanktische, dem gewöhnlichen
Besucher kaum auffallend, dem Wiesenbaudenstammgast vertraut wie all die anderen
markanten Merkwürdigkeiten der großen Baude, saß Urahn Vinzenz Bönsch senior.
Seine hagere, zähe Gebirglergestalt lebte gewissermaßen in dem hohen Lehnstuhl.
Prüfend und mit innerer Anteilnahme verfolgte er den kaum abebbenden Betrieb
seiner Baude, die bis auf wenige Wochen im Jahr fast immer Hochbetrieb hatte.
Als er einst die wunderbar gelegene Baude mit übernahm, mögen sich vielleicht
in seiner kühnsten Pionierphantasie einmal diese Baudenbilder gezeigt haben.
Daß sie noch zu seinen Lebzeiten Wirklichkeit wurden, schenkte ihm Freude an
seinem langen Lebensabend. Manch alten Wiesenbaudenfreund sah man bei diesem
Schöpfer des alten Wiesenbaudengeistes sitzen und die Erinnerung ging nur zu
gern in vergangene Zeiten, die uns jüngere Bergwanderer fast so ehrfürchtig
anmutete wie die, da noch der vielfältige Wundergeist des alten Rübezahls in
unserem lieben Heimatgebirge waltete.
Hinter der Theke aber herrschte "Onkel Emil" und der Flugzeugführer
des ersten Weltkrieges, Eugen Bönsch, der heute in Österreich, auch nicht mehr
der Jüngste, sich schwer sein Brot verdienen muß. Er verknüpfte mit der Wiesenbaude
den Begriff der Segelfliegerei und in Zusammenarbeit mit Herbert Beutel das
bisher nur im Riesengebirge gepflegte Skisegeln.
Wenn in der Nacht zum 1. Mai Eugens Geburtstag wie ein gewaltiges Walpurgisfest
gefeiert wurde, fiel dies Baudenereignis zumeist mit des Riesengebirges letztem
großen Skirennen, dem internationalen Mairennen (Abfahrtslauf im Wörlichgraben)
zusammen, in welchem festliches Erlebnis und sportlicher Winterausklang sich
glückhaft, unter der Teilnahme bester alpiner Kräfte der Alpen und des Schwarzwaldes,
unvergeßlich verband.
Es würde zu weit führen, alle die aufzuzählen, welche durch ihre Persönlichkeiten
den Typ der riesenhaften Wiesenbaude prägen halfen.
Unsere Bauden in Rübezahls Reich waren, das mag der kurze kulturgeschichtliche
Aufriß skizziert haben, Kristallisationspunkte deutscher Kolonistenarbeit und
gemütlicher, herzlicher Lebensfreude in dem Heimatgebirge, in welchem sich die
Weichheit des Südens mit der Wetterhärte des Nordens trefflich band. Wie magnetisch
zogen diese Bauden Wander- und Winterfreunde an.
Alles vorbei ... alles vergessen?
Wir berichten nun nichts Neues, dürfen dies aber als die letzten Striche an
dem Bilde der Wiesenbaude nicht vergessen. Hans Fuchs, der als Enkel des alten
Vater Bönsch die im Oktober 1938 zerstörte Wiesenbaude schon einmal wiederaufgebaut
hatte, hat nach schicksalverwirrter Wanderung, aber immer erfüllt und nicht
zuletzt getrieben vorn Geist der "alten Wiese", sie gewissermaßen
neu gebaut. Heißt sie auch heut nach dem Mundgebrauch ihrer Allgäuer Berge die
"Kahlrückenalpe", so nennt sie doch jeder Schlesier und Sudetendeutsche
einfach, er kann es eben nicht anders, die "neue Wiesenbaude". Dahin
wallfahren jetzt viele der Verstreuten, sparen oft ein Jahr und länger, um zu
dieser Sennhütte in 1200 Meter Kammhöhe bei Sigiswang über Sonthofen zu kommen.
Wie in jenen Tagen von Krummhübel oder Petzer, steigt man heute von Sonthofen
oder Fischen an die zwei Stunden, je nach Fußbegabung, zu Berg, begleitet von
ähnlichen blechgestanzten Markierungstafeln, wie sie Sitte an der historischen
Stangenmarkierung des Riesengebirges waren. Neuerdings verkehrt ab Bahnhof Sonthofen
bis Sigiswang ein Autobus zweimal täglich von den Hauptzügen. Dann schafft man
es ab Café Sigisfried in etwa 35-40 Minuten. In der Hörnergruppe und dem Rangiswanghorn,
das mit 1615 Metern Schneekoppenhöhe "übernommen" hat, sucht man die
Konturen der Rübezahlberge erinnernd und ist beglückt, auf der Speisekarte der
Hütte Wiesenbaudenspezialitäten wiederzufinden.
Wo in Restdeutschland werden so viele "Weißt du noch ... ?" von Berg-
und Skifreunden in schlesischer und sudetendeutscher Mundart über den Holztisch
gewechselt und der wehmütige Klang verliert seine Schwere, weil ringsum Berge
und die gastliche Herzlichkeit dessen ist, der gewissermaßen durch seine Tatkraft
es verstand, eine wahrhaftige Riesengebirgsbaude für uns alle in seinem Vertriebenengepäck
mitzunehmen.
Geka