Die Fremde laß zur Heimat werden Die Heimat nie zur Fremde.
Blaue Berge, grüne Täler mitten drin ein Häuschen klein, herrlich ist dies Stückchen Erde, und ich bin ja dort daheim. |
Diese Zeilen des Riesengebirgsliedes
passen so gut zu unserem kleinen Heimatdorf Döberle.
Eingebettet in ein Tal, umrahmt von herrlichen grünen Wäldern, sehe ich es vor
mir. Ein klarer Bergbach plätschert durch das ruhige Tal. An den Hängen stehen
die kleinen Häuser und Höfe der Bauern. Die liebevolle Pflege dieser Gebäude
lässt sie schmuck und sauber aussehen, und nur die alte Bauweise verrät, dass
diese Häuser schon für Generationen eine Heimat waren. Sie geben Zeugnis von
der jahrhundertlangen deutschen Besiedlung dieses Landes. (Der Name Franz Fleischer
wurde seit dem 15. Jahrhundert auf unserem Hof verzeichnet. Nur mein Großvater
hieß Karl. Diese Tatsache zeigt, dass selbst auf die Tradition der Vornamen
Wert gelegt wurde).
Ich habe die Überschrift "Die Gedankenwanderung" für diesen Text gewählt,
da sicher nicht nur ich, sondern viele von uns, in einer stillen Stunde mit
den Gedanken in der Heimat verweilen.
Ich kann es nicht zählen, wie oft ich schon in Gedanken unser schönes Heimat-dorf
besuchte. Waren es hundert oder tausend Mal in diesen 35 Jahren, ich kann es
nicht sagen!
Wer kann die Gefühle verstehen, die
man mit diesen beiden Worten verbindet? Nur der, der seine Heimat verloren hat!
Es fehlen einem die Worte, um so seine Gedankenwanderung mitzuteilen. Und trotzdem
möchte ich es versuchen!
Ich kann die Jahreszeit für meine Gedankenwanderung selbst wählen:
Den Winter, wenn alles tief verschneit ist, den Frühling mit seiner Blütenpracht,
den Sommer, wenn die schwerbeladenen Getreidewagen durch das Dorf fahren oder
den Herbst, wenn die Blätter den Boden bedecken und die Natur sich für den Winterschlaf
vorbereitet.
Einmal wandere ich den Weg entlang des Bürgerwaldes, der heute nicht mehr ist,
ein anderes Mal spaziere ich über den Litscha Berg, wo sich heute eine Straße
befinden soll. Ich gehe immer noch die alten, vertrauten Wege; die neuen kenne
ich ja nicht und das ist bestimmt gut so.
Heute gehe ich an einem schönen Frühlingstag von Wolta über den Litscha Berg
zu unserem Heimatdörfchen Döberle.
Steil und holprig führt der Weg nach Döberle. Im sogenannten Gänsehals kommt
mir die Geschichte vom "Erla Pfeif" in den Sinn. Wie diese Sage zustande
gekommen ist, weiß ich nicht. Als wir jedoch Kinder waren, lief uns immer ein
kalter Schauer über den Rücken, wenn wir an die Geschichte dachten, die uns
die Eltern erzählt hatten. Selbst unsere Mütter gingen nicht gerne diesen Weg.
Die Geschichte warnte davor, entlang dieses Weges ein Liedchen zu pfeifen. Überschritt
man dieses Gebot, so käme angeblich "Erla Pfeif", seinen Kopf unter
dem Arm tragend.
Meine Gedanken schweifen nun weiter. Der Weg fällt steil ab, auf der rechten
Seite erblicke ich die ersten Häuser. Hier, im zweiten Haus, wohnte der Verfasser
dieser Dorfchronik, Maier Wenzel. Wer kannte nicht seinen Vater, den Heger Maier!
Jeden Tag ging er mit seinem Dackel die Runde durch den Bürgerwald zu seinen
Holzfällern. Er gab dort seine Anweisungen und ging dann durch das Dorf heimwärts,
wobei er an drei Gasthäusern vorbei kam. Um keinen der drei Gastwirte Erben,
Steiner und Wunsch zu benachteiligen, wurde bei allen dreien kurz eingekehrt.
Für Heger Maier war der Tag nun meist zu Ende, denn das Gasthaus Wunsch war
nur ein paar hundert Meter von seinem Haus entfernt.
Meine Gedanken jedoch verweilen beim Gasthaus Wunsch etwas länger. Ich denke
an die zahlreichen Tanzveranstaltungen (Bälle genannt), die hier stattgefunden
haben: Bauernball, Feuerwehr- Turner- und der Jägerball, um nur einige zu nennen.
Meist sorgte unsere Dorfkapelle für heitere Musik und die Burschen und Mädchen
aus den Nachbarorten kamen zahlreich. Da ich schon mit 17 Jahren in den Krieg
musste, weiß ich leider von diesen Abenden nicht viel zu erzählen. Ich kann
mir jedoch gut vorstellen, dass Sie, lieber Leser, vielleicht hier einige schöne
Stunden verlebt haben und diese Gedankenwanderung ein kleines Stück auf Ihren
persönlichen Pfaden fortsetzen. Vielleicht sind auch manche Bande für das spätere
Leben geschlossen worden. In diesem Gasthaus wurden auch von Laienspielern (Mädchen
und Buben aus unserem Dorf) Theaterabende veranstaltet.
Setze ich meine Wanderung nun in Gedanken fort, so komme ich an herrlichen Wiesen
und Gärten, rechts und links des Weges vorbei. Der Löwenzahn steht in voller
Blüte und verwandelt die Wiesen in einen gelben Teppich. Den Dorfweg, der nicht
gerade im besten Zustand ist, säumen blühende Obstbäume, vor allem blühenden
Zwetschgenbäume. In Gedanken sehe ich alle Häuser und Bauernhöfe, von denen
ich nur einige nennen möchte. Alle Häuser und Bauernhöfe sind ja in der Dorfchronik
aufgeführt,
Auf der rechten Seite erinnere ich mich an das Häuschen vom Schreiber Emil.
Er war lange Zeit Kapellmeister unserer Dorfkapelle. Auf der linken Seite des
Dorfweges wohnte die Familie Demuth, Familie Moser, Fichtner, Kankovsky, der
einzige Tscheche im Dorf, Familie Koch, rechts beim Dorfweg Franz Reinhold (Mühlseff),
links das Haus Steiner, oben am Berg Vinzenz Fleischer (bei Kocha)
Unterhalb unser Kriegerdenkmal: 32 Opfer forderte der 2. Weltkrieg von unser
kleinen Gemeinde. Mein Bruder Franz war der erste Gefallene aus unserem Dorf.
Sie ruhen im Norden, im Westen, im Süden und im Osten. Vergeßt sie nie!
Auf der rechten Seite des Weges komme ich an unserm Turnplatz mit dem kleinen
Gerätehäuschen vorbei. Turnen wurde in unserer Gemeinde groß geschrieben. Hierbei
erinnere ich mich an unsere langjährige Vorturnerin, an die gute Wittich Liese.
Wie oft wurde hier am Sonntag Fußball oder Faustball gespielt. Diese Stunden
werden wohl viele von uns nicht vergessen. Bei meiner Wanderung werfe ich hier
einen Blick in unseren schönen Dorfbach. Lustig springt der klare Bergquell
über die Steine dahin. Eine Bachforelle sucht zwischen den Wurzeln einer Erle,
die am Bachufer steht, Unterschlupf.
Meine Gedanken wandern wieder auf die linke Seite des Weges. Hier wohnten die
Familien Weinlich, Wittich, Slawisch, auf der gegenüberliegenden Seite die Familien
Wimmer und Mayer.
In Gedanken mache ich nun einen Sprung in den Winter. Wer kennt nicht die herrliche
Abfahrt vom Bürgerwald, vorbei an Mayers Haus über den Dorfbach (hier wurden
ein paar Bretter über den Bach gelegt und Schnee darauf geschaufelt). Die Fahrt
endete steil auf dem Dorfweg mit einem Dellimark, in den wir viel Schwung legten.
Gehe ich mit meinen Gedanken ein Stück weiter, so komme ich zum Gasthaus
Steiner. Was könnte dieses Haus, dessen Saal über den Dorfbach gebaut
war, alles erzählen. Auch hier wurden zahlreiche Tanzveranstaltungen abgehalten.
Ein Stückchen weiter, direkt neben dem Dorfweg, steht das Waagehäuschen
mit der Viehwaage. Hier wog man das Vieh, das verkauft oder gekauft wurde.
Hierbei denke ich an eine lustige Geschichte, lustig deswegen, weil Gott sei
Dank nichts passierte. Wir hatten einen Religionslehrer (Katecheten), der sicher
allgemein bekannt ist, auch ohne seinen Namen zu nennen. Er trug stets einen
großen schwarzen Hut, seine Lieblingsbeschäftigung war das Fotografieren.
Er hätte eigentlich Fotograf werden sollen. Unser Katechet hatte damals
schon ein Sachsmotorrad, bei dem er bergauf tüchtig mittreten musste. Seine
Fahrkunst war nicht besonders gut, zumal er schon etwas älter war. An jenem
Nachmittag hatten wir die letzte Stunde bei ihm Unterricht. Als wir alle vor
dem Schulhaus standen, sahen wir dem Katecheten zu, wie er sein Motorrad in
Schwung brachte. Er setzte sich darauf und fing an zu treten. So ging es einige
hundert Meter, bis plötzlich das Vehikel ansprang. Das Waagehäuschen,
das direkt neben der Straße stand, übte auf ihn solch eine Anziehungskraft
aus, dass er schnurstracks auf das Häuschen zufuhr und es rammte. Wir Kinder
lachten natürlich herzhaft. Doch unser Katechet stand auf und fuhr weiter.
Mit meinen Gedanken verweile ich noch ein wenig bei der Schule. Ich erinnere
mich an das Klassenzimmer, ich sehe die Schulbänke, auf einem Podium die Tafel.
Erinnerungen an unsere Schulzeit werden wach.
Ich gehe nun wieder auf den Dorfweg
und stehe vor der schönen kleine Kapelle. An besonderen Tagen wurde hier
eine Messe zelebriert. Die Männer standen meist vor der Kapelle, da sie
zu kein war, um alle Kirchgänger aufzunehmen. Im Mai wurden hier die Andachten
zu Ehren Mariens jeden Abend abgehalten. Obwohl wir Buben aus auch hier so manchen
kleinen Scherz erlaubten, glaube ich nicht, dass uns diese Streiche nachgetragen
wurden.
Rechts gehe ich nun über die kleine Brücke zum Friedhof, der von einer
massiven Steinmauer umgeben ist. Ich öffne das große schmiedeeiserne
Tor, das mit viel Liebe angefertigt worden war. Gleich auf der rechten Seite
steht das Friedhofhäuschen. Hier verwischen sich meine Gedanken und ich
kann mich nur noch an einige Gräber erinnern. Ja, hier ruhen unsere Urgroßväter,
Generationen schlafen in dieser heiligen Erde. Niemand schmückt ihr Grab.
Mit traurigen Gedanken verlasse ich diesen Ort und wandere auf der Dorfstraße
entlang.
Auf der linken Seite des Weges, oben am Berg, stehen die Bauernhöfe Baudisch
und Fleischer. Hier bin ich zu Hause. Es ist verständlich, dass meine Gedanken
hier besonders lange verweilen.
Heute gehe ich quer durch den Garten zum Hof. Ich sehe alle Bäume stehen,
hier die Apfelbäume, dort den Birnbaum, die Kirschbäume und natürlich
die vielen Zwetschgenbäume. Auch die zwei schönen Lindenbäume
stehen noch, es hat sich in meinen Gedanken nichts geändert. Ich gehe ins
Haus, in die große Stube, von dort in den Stall. Hier stehen die Kühe,
die Schecke, die Blume und die anderen, die kleinen Kälber schauen mich
an. Die zwei Pferde, die Stute Hella, Fritz der Wallach, mit dem ich oft über
die Felder galoppiert bin, drehen sich um. Mit schnellen Schritten verlasse
ich den Stall, sie sollen nicht bemerken, dass ich hier war.
Hier muß ich immer an die seltene Begebenheit denken, die mir mein Vater
und der Nachbar Hilbert erzählt haben. Bei der Aussiedlung ereignete sich
folgendes. Mein Vater durfte mit seinen Pferden bis ins Sammellager nach Hohenelbe
fahren. Die Familie Hilbert fuhr ebenfalls mit, Da mein Vater und der Nachbar
Hilbert nicht wussten, wer und wann das Vieh wieder gefüttert wird, gaben
sie eine ganze Fuhre Klee den Kühen. Als mein Vater und die Familie Hilbert
in unserer Gasse herunterfuhren, brüllte plötzlich unser Vieh. Es
ist sonderbar, dass Kühe brüllen, wenn sie frisches Futter zum Fressen
haben. Sollte selbst das Vieh gemerkt haben, dass es ein Abschied für immer
war. Wer weiß es?
Weiter geht meine Wanderung an der Grenze von dem rechten Nachbarn Hilbert entlang
bis zum Wald. Hier sehe ich all die Felder: das Rübenfeld, das Kartoffelfeld,
die Korn-, Weizen- und Haferfelder. Ich gehe durch den Wald und beim linken
Nachbar Baudisch zurück ins Dorf. Gegenüber sehe ich den Hof vom Fleischer.
Otto Fleischer hat viel für die Dorfchronik getan, leider war es ihm nicht
vergönnt, sie fertig zu stellen. Sein Nachbar war Kuhn, neben der Straße
wohnten die Familien Rudolf und Schreiber.
Neben dem Dorfweg steht das Feuerwehrhaus mit der Aue (der Platz neben dem Dorfweg).
Hier wurden meist die Übungen der Freiwilligen Feuerwehr abgehalten. Es war
ein schönes Bild, wenn die Männer mit ihren blitzenden Goldhelmen antraten.
Wir Kinder mussten vor solch einer Übung die Helme blank putzen.
Ich könnte hier noch viel erzählen, doch ich kann mit meinen Gedanken
nicht zu lange zu Hause verweilen, das Leben geht weiter.
Auf der rechten Seite des Dorfweges, hoch oben am Berg, sehe ich die Burg vom
Steiner. Hier muß ich an die Turnstunden denken und an die Lieder, die wir als
Pimpfe gesungen haben (es zittern die morschen Knochen).
Nebenan wohnten Klippels und dort steht auch das Gasthaus Erben. Auf der linken
Seite sehe ich die Höfe von den Familien Hilbert, Franz, Staude, Steiner und
die Scholza Bauern Fleischer und Franz Josef.
Bei der Winkler Schmiede teilte sich der Dorfweg und ich gehe rechts über die
Brücke des Dorfbaches, wo oben rechts die Familien Winkler, Fleischer und Mann
wohnten, auf der anderen Seite die Häuser von Müller und Steiner.
Wenn man den Weg weiter geht, kommt man zum Marienbrünnel. Viele hundert Menschen
sind sonntags aus der Umgebung hier hergepilgert. Wie viele Sorgen oder Dankgebete
wurden wohl hier der Mutter Gottes vorgetragen? Hier wird man sich fragen: Mußte
alles so kommen? Gott wird es wissen, es geschieht nichts ohne Ihn.
Von dort gehe ich an der reichsdeutschen Grenze am Johannisberg entlang. Der
Fußweg richtet sich nicht nach der Grenze, er verläuft einmal auf tschechischer,
einmal auf deutscher Seite. Hier gab es noch keinen Stacheldraht, es herrschte
tiefer Frieden. Ach, wie schlug uns als kleine Jungen das Herz, wenn wir auf
reichsdeutschem Gebiet waren. Wer erinnert sich noch daran? So geht es Menschen,
die in einem fremden Staate leben müssen.
Nun ist meine Gedankenwanderung zu Ende. Lieber Leser, wenn Sie auch einen Großteil
des Weges mit mir zurückgelegt haben, so werden Ihre Gedanken sicher an der
einen oder anderen Stelle in ihre ganz persönliche Vergangenheit geschweift
sein. Es würde mich jedoch freuen, wenn diese Gedankenwanderung eine kleine
Anregung für Sie war, ab und zu einen Ausflug in unser schönes Heimatdörfchen
Döberle zu unternehmen.
Ja, die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliegen vorbei, wie
nächtliche Schatten, kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen mit
Pulver und Blei, die Gedanken sind frei.
Nach der Heimat geht mein heimlich Sehnen |
Bad Tölz, den 29.08.1978