Quelle: Alfelder Zeitung vom 15. August 2012, Seite 15
Einreicher: Ullrich Junker, Bodnegg.

Tausende Vertriebene kamen nach Alfeld

7500 Schlesier mussten 1946 innerhalb von vier Wochen im Altkreis untergebracht werden

von Ullrich Junker, Bodnegg

Alfeld. Am ersten Wochenende im September (1. und 2. September) gibt es das 27. Hirschberger Heimattreffen in Alfeld. 1946, unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, kamen die heimatvertriebenen Schlesier nach Alfeld und in die umliegenden Dörfer.

7500 Vertriebene aus Schlesien kamen innerhalb von vier Wochen von Ende Mai bis Ende Juni 1946 nach Alfeld beziehungsweise in den Kreis Alfeld. Davon stammten 4500 aus dem Kreis Hirschberg, 1500 aus dem Kreis Waldenburg und 1448 aus Kohlfurt (Eisenbahnknotenpunkt, etwa 20 Kilometer nordöstlich von Görlitz).

Auf der Potsdamer Konferenz wurde die Festlegung der polnischen Westgrenze nicht geklärt. Diese sollte in einer späteren Friedenskonferenz festgelegt werden. Eine Aussiedlung hätte es gar nicht geben dürfen. Dennoch stimmten die West-Alliierten in der 21. Sitzung des Alliierten Sekretariats beim Kontrollrat am 19. November 1945 der "Aussiedlung" der Deutschen aus Schlesien zu. Am 14. Februar 1946 kam es zu einem Abkommen zwischen den britischen und polnischen Vertretern beim Combined Reparation Executive.

Es gab vier Aussiedlungsrouten:
• Stettin - Lübeck per Schiff
• Stettin - Bad Segeberg per Bahn
• Kohlfurt - Mariental und Alversdorf per Bahn, 3000 Personen pro Tag in zwei Zügen
• Kohlfurt - Friedland

Jeder durfte nur soviel mitnehmen, wie er tragen konnte, eingeschlossen Selbstverpflegung für drei Tage.

Am Ankunftsort musste sich jeder mit DDT-Pulver desinfizieren lassen. Jeder Zug hatte eine Namensliste der Insassen, die am Ankunftsort im Westen abgeglichen wurde.

Diese Transportlisten liegen heute im Staatsarchiv in Wolfenbüttel und geben Auskunft über den Abgangsort in Schlesien und den Zielort im Westen. Über Mariental bei Helmstedt kamen allein bei der sogenannten Aktion "Schwalbe" 579 224 Schlesier in den Westen. Insgesamt dürften über Mariental etwa 750 000 Schlesier in den Westen gelangt sein. Aus Breslau werden 1654 jüdische Vertriebene aufgeführt.

Von 58 Vertriebenentransporten im Juni 1946 kamen zehn Transporte aus Hirschberg. Nach Alfeld und Umgebung gelangten zum Beispiel folgende Transporte:

• Ankunft eines Vertriebenentransportes aus Hirschberg in Schlesien im Auffanglager Mariental am 29. Mai 1946 um 18 Uhr und noch am selben Tage um 23 Uhr weitergeleitet nach Alfeld: 1501 Personen (Männer 374, Frauen 870, Kinder 416).
•Transport aus Kohlfurt über Mariental am 2. Juni 1946 nach Alfeld: 1448 Personen (Männer 428, Frauen 676, Kinder 344).
• Ankunft eines Transportes aus Waldenburg in Schlesien im Lager Mariental am 7. Juni 1946 um 3 Uhr, weitergeleitet am 8. Juni nach Alfeld: 1809 Personen (Männer 375), Frauen 884) (Kinder 550). Davon entfielen 1500 Personen auf den Kreis Alfeld und 309 Personen auf den Kreis Braunschweig.
• Ankunft Lager Mariental am 23. Juni 1946 um 24 Uhr, weitergeleitet am 24. Juni 1946 nach Alfeld: 1500 Personen (Männer 331, Frauen 713, Kinder 456).

Die geringe Zahl der Männer erklärt sich dadurch, dass diese in Gefangenschaft oder dem Krieg zum Opfer gefallen waren.

In Alfeld und Umgebung haben sich die vielen Schlesier in den folgenden nahezu sieben Jahrzehnten voll integriert. Da sie nichts aus ihrer Heimat mitnehmen konnten, mussten sie in ihrer neuen Heimat ganz von vorn anfangen, was wesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung in der Nachkriegszeit beigetragen hat.

Seit 1960 treffen sich die Riesengebirgler aus nah und fern alle zwei Jahre zu ihrem Heimattreffen in Alfeld. Für viele von ihnen ist Alfeld das Zuhause geworden, aber ihre Heimat ist und bleibt das Riesengebirge.

Die Wunden des schmerzlichen Verlassens der Heimat sind nahezu verheilt. Viele Riesengebirgler pflegen Freundschaften zu "ihren" Polen, die nun in "ihrem" Haus wohnen. Es ist erfreulich, dass sich besonders die jungen Polen in Schlesien für die deutsche Geschichte vor 1945 interessieren und noch mehr darüber erfahren wollen.

Im Hirschberger Tal, im "Tal der Schlösser und Gärten", sind in den vergangenen zehn Jahren viele Schlösser und Parkanlagen restauriert worden. Auch deutsche Inschriften werden wieder mühevoll restauriert. Die Restaurierung des Hirschberger Gnadenfriedhofs mit Kosten von zwei Millionen Euro steht kurz vor dem Abschluss.

Dr. Horst Berndt, der im vergangenen Jahr verstorbene langjährige Leiter des Alfelder Gymnasiums, hatte vor 20 Jahren mit dem Schüleraustausch der Gymnasien in Alfeld und Hirschberg einen Weg für ein friedvolles Miteinander in Europa eingeschlagen.

Eine Partnerschaft zwischen den Regionen Leinebergland und Riesengebirge könnte diesen Aussöhnungsprozess weiter festigen. Neben dem Schüleraustausch werden gegenseitige Besuche von Schülern, Sportlern, der Musikschule, der Kirchen, Vertretern der Industrie und des Handwerks sowie der politischen Vertreter das Miteinander in einem gemeinsamen Europa stärken.

Beim diesjährigen Hirschberger Heimatreffen werden auch drei polnische Bürger aus dem Riesengebirge für ihr Engagement um die Erhaltung und Bewahrung der schlesischen Kultur ausgezeichnet - ein Zeichen für die gelebte Aussöhnung.

Die Transportlisten von 1946 liegen heute im Staatsarchiv in Wolfenbüttel. Sie geben Auskunft über das Schicksal vieler Vertriebener.


Quellen: Niedersächsisches Landesarchiv Staatsarchiv in Wolfenbüttel: "Flüchtlingstransporte – Namenslisten – Flüchtlingslager Mariental". Rolf Volkmann, Das Flüchtlingslager Mariental (1945-1947) und die Vertriebenentransporte aus Schlesien (1946-1947). ISBN 3-00-001801-8

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