Quelle: Riesengebirgsheimat Heimatblatt für die ehemaligen Kreise Trautenau und Hohenelbe August 1957
von Oberlehrer Alois Tippelt, Archivbetreuer des "Heimatkreis Trautenau"
Das gesamte früh-heimatkundliche Schrifttum
zur Geschichte des Riesengebirges ist in den Hussitenkriegen sowie im Dreißigjährigen
Kriege und später nochmals in den Schlesischen Kriegen fast zur Gänze verloren
gegangen. Das wenige, was bis zu Zeiten Maria Theresias an Gedenkbüchern, Urkunden,
Matriken, Gemeindechroniken und sonstigen Quellen der Nachwelt erhalten blieb,
erwarben einzelnen Museen und Archive Böhmens. Nachdem uns diese heute leider
verschlossen sind, können wir lediglich einige ältere Bücher zur Geschichte
Böhmens soweit solche im deutschen Sprachraum noch auffindbar sind
für die Heimatforschung heranziehen.
Es war der volksfreundliche Habsburger Josef II. (1741 1790), der neben
Kunst und Wissenschaft auch die allgemeine Volksbildung tatkräftigst zu heben
verstand. Ihm ging es vor allem darum, dass auch in den entlegensten Gemeinden
seines vielsprachigen Reiches wiederum die Matriken, Kataster, Gedenkbücher,
Archiv angelegt und ordentlich geführt wurden. Ihm müssen wir es also verdanken,
dass es uns erstmalig möglich ist, über das Riesengebirge und dessen Vorland
ein ziemlich lückenloses Zeitbild zu entwerfen. Leider kann dieses im Heimatblatt
nur skizzenhaft angedeutet werden, was in den folgenden Zeilen versucht werden
soll.
Wenden wir uns zunächst dem Hochgebirge zu. In alten Büchern ist zu lesen, dass
das "Riesen-Gebürg" durch die Jahrhunderte ein schauriges und zerklüftetes
Gebirge war, das von den Menschen gemieden ward. Sicher trifft das zu, denn
der mächtige Gebirgswall zeigte noch im 18. Jahrhundert alle Merkmale eines
Urwaldes, worin gefährliche Raubtiere, wie Wölfe, Bären und Luchse sich in freier
Wildbahn erfreuen durften. Nur selten wagte sich ein Forstmann oder ein kühner
Naturforscher in das urwüchsige Dickicht vor, denn wie leicht konnte es auf
solch abenteuerlichen Wegen um ihn geschehen sein. Die vielen langen Kriege
hatten es mit sich gebracht, dass in den Tälern und versteckten Winkeln des
Gebirges allerhand Raubgesindel ein gesetzloses Dasein führte, ein Zustand,
der auch in den Zeiten Josef II. nicht behoben werden konnte, zumal ja gerade
zu seinen Lebzeiten unsere Heimat in drei Kriegen zum Tummelplatz zuchtloser
Kriegsvölker (siehe Kosakeneinfälle!) geworden war. Immerhin war das Riesengebirge
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kein unbekanntes Gebirge mehr. Kartographen
hatten es bereits topographisch vermessen, und Wirtschaftsfachleute schmiedeten
eifrig an Plänen, wie es land- und forstwirtschaftlich nutzbar gemacht werden
könnte. So fällt in die Jahre zwischen 1740 bis 1760 der vielbestaunte Versuch
des Grafen Franz-Carl von Sweerts-Sporck ein Nachfahre des berühmten
Reichsgrafen Franz-Anton von Sporck, das westliche Riesengebirge in eine "Böhmische
Schweiz" umzuwandeln, ein grandioser Versuch, der rühmend in Böhmens Wirtschaftsgeschichte
verzeichnet ist. Siehe mein Beitrag: "Das ökonomische System des
Grafen Franz-Carl von Sweerts-Sporck auf den Harrachschen Gütern um Starkenbach",
veröffentlicht in der "Riesengebirgsheimat", Jahrgang 1955, Nr. 11.
Unermüdlich regte sich wirtschaftlicher Fleiß in den Flusstälern, wo nach Gold
und sonstigem edelhältigem Gestein geschürft wurde, z. B. in Rochlitz, St. Peter,
Gross-Aupa, Schüsselbauden, Ponikla, Freiheit und anderen Bergorten. Das bewies
das monotone Pochen der vielen Hammerwerke an Iser, Elbe und Aupa. Als Reise-
und Ausflugsziel war in jenen Jahrzehnten das Riesengebirge noch nicht gesucht,
obwohl zum Beispiel ein Graf Franz-Anton von Sporck es bereits fertigbrachte
wenn auch in einer Sänfte getragen , die Schneekoppe zu besteigen.
Übrigens soll auch Josef II. im Jahre 1779 auf der "Riesenkoppe" gewesen
sein. Ansonsten finden wir nur wenige Belege, dass damals die unberührte Schönheit
unseres Gebirges dem Menschen einen Willkommengruß entboten hätte.
Anders lagen jedoch die Verhältnisse bereits im Riesengebirgsvorlande. Wohl
war dieses auch noch zum Teil mit großen Wäldern bedeckt, aber sie wurden von
den Gutsforstverwaltungen gut gepflegt und erfreuten sich eines reichen Wildbestandes.
Hätten wir heute aus jener Zeit eine Bezirkskarte zur Hand, so könnten wir mit
Staunen feststellen, dass seinerzeit schon all die Ortschaften bestanden, wie
selbe uns bekannt sind; und hätten wir etwa eine solche Karte aus der Zeit vor
dem Dreißigjährigen Kriege, so könnten wir zu unserer größten Verwunderung noch
weit mehr Ortschaften entdecken. Nicht wenige Riesengebirgsdörfer waren nämlich
von den Schweden derart zerstört worden, dass es sich später nicht mehr lohnte,
sie wieder aufzubauen. Freilich hatten unsere Dörfer zur Zeit Maria Theresias
noch lange nicht das Aussehen, wie wir sie noch in schönster Erinnerung haben.
Die Mehrzahl der "Örter" waren sogenannte Meierhöfe, d. h. also Nebengüter
von Groß-Gutsherrschaften. Die Besitzer dieser großen Zentralgüter waren durchwegs
Angehörige des Landadels, der in seinem Wesen "böhmisch", also deutsch
und tschechisch war. Wir nennen nur einige Namen: obenan das berühmte und weitverzweigte
Geschlecht der Waldsteine, dann die Silbersteine, die Sporcks, Erdmannsdorfs,
Aichelburgs, Schwarzenbergs, Schaffgotschs, Morzins, Deyms und andere. Nach
den verhängnisvollen Schweden- und Preußenkriegen waren die meisten Dörfer wieder
gut instandgesetzt worden, ja viele waren schöner als je zuvor, also ein schönes
Zeugnis für den Fleiß und für die Tüchtigkeit unserer Altvordern.
Bevor wir uns aber dem Leben und Treiben auf dem Lande zuwenden, wollen wir
zunächst einen Blick in die Städte werfen. Schon damals, wie lange zuvor und
heute, war Trautenau die Metropole des sudetendeutschen Riesengebirges. Es war
gleich seiner Schwesterstädte Arnau, Hohenelbe und Königinhof von starken, befestigten
Mauern umgeben, wenngleich dieser steinerne Schutz für Kriegszwecke bereits
überholt war, aber mögliche Revolten und vor allem das Bandenunwesen mahnten
zu Wachsamkeit, zumal gerade die kleinen Städte schon immer bevorzugte Plünderungsziele
verrotteter Soldateskas gewesen waren. Obwohl die Riesengebirgler hinsichtlich
Fleiß, Sparsinn und Genügsamkeit seit jeher sich einander übertrafen, so war
dennoch die große Armut ihre Städte, bedingt durch anhaltende Kriegslasten,
gelegentliche Einquartierungen, Durchmärsche, Brandschatzungen und sonstiger
Nöte, geradezu erschreckend. Im großen und ganzen aber unterschieden sich damals
unsere Städte in ihrem inneren und äußeren Bilde kaum von dem der anderen deutschen
Städte des Reiches. Verwaltungsmäßig unterstand das "Böhmische Riesengebirge"
der Kreisstadt Königgrätz (eigentlich "Königin-Grätz" nach der damaligen
Schreibweise), die eine zentrale Stellung für ganz Ostböhmen inne hatte. Der
Amtsverkehr mit Königgrätz war deutsch, wie überhaupt diese schöne Stadt durch
die Jahrhunderte ein deutsches Gesicht zeigte, wenn sie auch keine deutsche
Stadt war.
Die Beschreibung unserer Städte zur Zeit Josefs II. erfolgt in einem späteren
Aufsatz, zunächst wenden wir uns wieder dem Gebirge zu.
Um 1770 waren alle Riesengebirgsdörfer noch kleine Welten für sich. Bestimmt
war ihr Anblick sehr schön, zumal sie in die Gebirgslandschaft idyllisch hineingebaut
waren. Freilich waren die Wohnhäuser meist nur "Bauden" oder gar armselige
Hütten, und die Stallungen und Scheunen große Schuppen. Die Meierhöfe dagegen
bestanden aus mehreren massiven Gebäuden um den Hof herum, von welchen das Herrschaftswohnhaus
ein mehr oder weniger schlossartiges Aussehen hatte. Von Dorf zu Dorf führten
Fahrwege und Gehsteige, die mit zahlreichen Wegkreuzen, Heiligenbildern, auch
Figuren, umsäumt waren. Land- und Bezirksstraßen im heutigen Sinne gab es noch
nicht. Die oft genannten Fuhrmannsstraßen verdienten den Namen "Straße"
nur sehr bedingt, waren sie doch lediglich verbreiterte, steinige Wege, die
querfeldein in das Landesinnere führten. Der Zustand aller Wege und Straßen
war unglaublich schlecht, denn von Staats wegen wurde für deren Instandhaltung
ausgenommen für Militärstraßen soviel wie nichts getan. Bei sommerlicher
Dürre waren sie mit einer dicken Schutt- und Staubdicht bedeckt, die dann bei
anhaltendem Regen derart in Schlamm und Morast überging, dass jeder Verkehr
unmöglich wurde. Neben Fuhrleuten, Herrschaftsgespannen und Einzelreisenden
sah man auf den Straßen oft auch Scharen von Wallfahrern, die mit frommem Gebet
und Gesang in loser Ordnung zu einer Gnadenkirche oder zu einem wundertätigen
Heiligenbilde hinpilgerten.
Ein Kuriosum im damaligen Handelsleben waren die Schubkarrenfahrer, also Handelsleute,
die in Ermangelung eines eigenen Gespanns ihre Produkte in einem Schubkarren
(Ropr!) zu den Märkten fuhren. Meist wurde mit Milcherzeugnissen und Leinen
gehandelt. Freilich war der Handel mit "dr Ropr" mühsam und beschwerlich,
abgesehen von den schlechten Straßen drohte zudem durch Unwetter und Wegelagerer
allerlei Ungemach. Um sich die Zeit zu verkürzen, wurde unterwegs laut der Rosenkranz
gebetet, wobei sich die Vorbeter einander abwechselten. Nicht wenige dieser
"Roprfrächter" haben mit Schubkarren zuweilen ganz Böhmen und Schlesien
durchquert, respektable Leistungen, die in ihrer Art einmalig waren.
Das Leben in den Dörfern und auf den Meierhöfen stand aber im 18. Jahrhundert
noch ganz im Schatten einer Leib und Leben bedrückenden Leibeigenschaft, die
trotz der großen Bauernkriege des 16. Jahrhunderts nicht gemildert worden war.
Noch immer war der Bauer ein rechtloser Untertan. Noch immer "klebte er
an der Scholle", das heißt, weder er, noch seine Familie, noch sein Hof,
Grund und Boden waren frei, sondern über Leben, Hab und Gut des Landvolkes bestimmte
einzig und allein die patrimonale Obrigkeit.
Es würde zu weit führen, wollten wir hier ein Bild über die Leiden der Leibeigenschaft
entwerfen, denn sie bestand damals fast noch in allen deutschen Ländern, wenn
auch in verschiedenen Graden. Sie war aber in Böhmen von jeher ganz besonders
berüchtigt und machte auch im Riesengebirge keine Ausnahmen. Die große Not,
die den armen, unfreien Bauern drückte, war einfach unvorstellbar, nach heutigen
Begriffen war es reinste Sklaverei. Insbesondere in den Jahren nach dem Siebenjährigen
Kriege verlangte der Grundherr mit aller Strenge den ihm gebührenden Grundzins,
den Frondienst, den Zehent usw., ohne auf die allgemeine Notlage geringste Rücksicht
zu nehmen. Dazu kam in den Jahren 1770, 1771 und 1772 eine schreckliche Hungersnot.
Das Getreide war wegen anhaltenden Regens gänzlich missraten, im zweiten Hungerjahr
soll die Fechsung nicht einmal den Samen gebracht haben. Dem Hunger folgten
die Seuchen und mehrten das Elend. Trotz all dem musste der bäuerliche Untertan
für den Gutsherrn arbeiten, wann und wo immer es dieser für zweckdienlich hielt.
Eigentümer seines Hofes war er nur dem Namen nach, denn er durfte seinen Besitz
nicht nach Belieben veräußern, also nicht verkaufen, verpachten oder vererben.
Desgleichen durfte er nicht seinen Teich abfischen, das Wild in seinem Walde
jagen, ja, er musste es sich gefallen lassen, wenn das "herrschaftliche
Wild" seine bestellten Felder zerstörte. Nicht nur er, sondern die ganze
Familie musste über die ganze Woche auf dem Meierhofe arbeiten, das heißt roboten,
wofür es nur geringen Lohn gab. Wann aber sollte er die eigenen Felder bewirtschaften?
Dazu verblieb im Sommer nicht selten nur die Nacht, denn barbarisch streng verlangte
die Gutsobrigkeit das gesetzlich festgelegte Ablieferungssoll, den Zehent. Für
den Fall, dass dieses nicht erbracht werden konnte, durfte dem Bauer beliebig
viel gepfändet werden. Für die leibeigenen Kinder gab es wohl viel Handarbeit,
aber keinen geregelten Schulunterricht, lediglich über den Winter erhielten
sie in Trivialschulen eine dürftige Unterweisung in Lesen und Schreiben. Über
die spätere berufliche Ausbildung entschied auch nur wieder der Gutsherr, desgleichen
über Heirat oder Wegzug auf einen anderen Hof, ja selbst für Besuche in ein
anderes Dorf musste um gütige Erlaubnis gebeten werden. Etwas mehr persönliche
Freiheit wurde den Handwerkern und Handelstreibenden zuerkannt, aber auch sie
waren rechtlose Untertanen. Kein Wunder, wenn dann mitunter in stürmischer Nacht
der "Rote Hahn" über der Gutsvilla leicht loderte, und in keiner Landschaft
fehlten unheimliche Geschichten über Tyrannen von Gutsherren oder Verwaltern,
die eine unbekannte Hand in Feld oder Wald erschlagen hatte.
Sicherlich waren nicht alle Herrschaften gleich, es gab auch solche, auf welchen
das Leben erträglicher war. Erinnert sei nur an den kaiserlichen Generalissimus
Herzog Albrecht von Waldstein, der 100 Jahre zuvor, also mitten im Dreißigjährigen
Krieg, seine Riesengebirgsgüter zu Wohlstand und Blüte brachte. Im 18. Jahrhundert
ist es dann das berühmte Geschlecht derer von Sporck, von welchem sich der Mäzen
Franz-Anton, Reichsgraf von Sporck, als der bekannteste Menschenfreund seiner
Zeit auszeichnete. Er war es, der auf der Gradlitzer Herrschaft die erste soziale
Altersversorgung schuf, der diesbezügliche, vom Kaiser bestätigte Stiftungsbrief
zählt zu den wertvollsten Dokumenten böhmischer Sozialgesetzgebung. Kaiser Josef
II. soll von den Sporckschen humanen Stiftungen, die er während seiner wiederholten
Aufenthalte im Riesengebirge besuchte, derart beeindruckt gewesen sein, dass
selbe nicht zuletzt ihn dazu bewogen, die Leibeigenschaft in seinen österreichischen
Erblanden aufzuheben, und die entsprechenden Edikte herausgab. Diesbezügliche
Urkunden verwahrt das Königinhof er Museum. Auch andere Riesengebirgsherren
waren rühmliche Ausnahmen, so die Schaffgotsch, Morzins, Deyms usw.; wir wollen
dies ihren heutigen Nachfahren in Ehren bestätigen.
Wo es leider nicht der Fall war, dort haben unsere Altvordern das schwere Los
der Leibeigenschaft ergeben hingenommen. In ihrem Weltbilde stand es nun einmal
fest, dass es Reiche und Arme, Hohe und Niedrige, Schwache und Mächtige gab.
Hauptsache war, dass man gesund blieb und dass der Herrgott immer wieder half.
Der Gutsbesitzer stand als der "gnädige Herr" nach Gott und Kaiser
an dritter Stelle, aber auf Erden spielte er nun einmal die höchste Rolle; denn
nur von ihm allein hing das ganze irdische Wohl und Wehe ab. Kein Wunder, wenn
man ihm ehrfurchtsvollsten Respekt entgegenbrachte. Fuhr er in einer prunkvollen
Kutsche durch sein kleines Königreich, zogen die Untertanen ehrerbietigst die
Mützen und verbeugten sich tief, während die Frauen artige Knickse machten.
Wehe, wenn einmal ein Bäuerlein aus Versehen die schuldige Huldigung unterließ,
gleich setzte es geharnischte Leibesstrafen! Nicht viel anders waren die hohen
und niedrigen Beamten, also die Gutsdirektoren, Oberverwalter, Wirtschaftsführer
und Unterverwalter, die nicht weniger Wert darauf legten, dass man ihnen die
gleichen Ehrenbezeigungen wie dem "gnädigen Herrn" erwies.
Warum das untertänige Landvolk noch im 18. Jahrhundert eine Leibeigenschaft
hinnahm, ist nur aus der Mentalität der damaligen Zeit zu verstehen. Nicht zuletzt
war es die große Natur- und Gottverbundenheit, die es zum Durchhalten befähigte.
Der stete Wechsel der Jahreszeiten hat die Menschen damals noch erschüttert,
denn den Lauf der Natur personifizierten sie mit göttlichen Gewalten und das
Gotteshaus war der Ort, wo der Gutsherr nichts zu befehlen hatte, wo er mit
seinen Untertanen zum Allmächtigen mit betonter Schau betete, auch wenn er abseits
in einer prunkvoll mit Gold, Samt und Seide ausstaffierten Loge dem Gottesdienste
beiwohnte und es zuweilen ablehnte, zu gleicher Zeit auf der gleichen Altarstufe
mit Untertanen zu kommunizieren. Die Frömmigkeit des Landvolkes blieb noch lange
von den vielen josefinischen Reformen unberührt. Noch immer war der erste Schlag
der Dorfglocke das Zeichen zu tiefer religiöser Besinnung, jegliche Arbeit wurde,
kurz unterbrochen, man bekreuzigte sich und sprach kurze Gebete. Die religiösen
Übungen wurden peinlich genau befolgt, und es verging kaum eine Woche, ohne
dass nicht eines Heiligen zu gedenken war. Die vielen kirchlichen Feiertage
waren nicht nur Tage der Andacht, sondern auch der Ruhe und Erholung, also gleichsam
Urlaubstage, da Anspruch auf geregelte Erholung damals undenkbar war.
Die Stellung des Dorfgeistlichen war selbstredend nicht leicht. Zu wem sollte
er halten, zur Obrigkeit oder zu den untertänigen Laien? Von einigen Ausnahmen
abgesehen, haben aber die Dorfpfarrer ihr heiliges Amt standhaft ausgeübt, so
sehr sie auch mitunter von der Obrigkeit unter Druck gesetzt wurden. In der
religiösen Betreuung waren aber ganz schlimm die Baudendörfer im Hochgebirge
dran. Die meisten dieser einsamen, von aller Welt abgeschnittenen Dörfer hatten
keine Kirche, und nicht wenige lagen sechs bis acht Stunden von ihrem Kirchorte
entfernt. Kirchliche Zentren waren die Orte Marschendorf, Langenau, Hohenelbe
und Rochlitz. Kein Wunder, wenn ehedem selbst Erwachsene durch viele Jahre ihren
Kirchort nicht sahen und das Erscheinen eines Geistlichen im tiefen Gebirge
ein so ungewöhnliches Ereignis war, dass bei seinem Auftauchen die Leute aus
den Bauden von weitem herbeiliefen, auf die Knie fielen und ihn wie einen Boten
des Himmels gleich mit überschwenglicher Verehrung begrüßten. Wenn Natur und
Gott unsere Altvorderen vor 200 Jahren noch aufs tiefste beseelt haben, ist
es verständlich, dass sie nicht nach weltlichem Genuss strebten. Abgearbeitet
und erschöpft kehrten sie am Spätabend heim in ihre Hütten und Gutswohnungen,
legten sich nach dem Abendbrot auf das harte Lager, um beim nächsten Morgengrauen
mit noch müden Gliedern die Arbeit wieder aufzunehmen. So ging es bis in den
späten Winter hinein. Endlich waren ihnen einige geruhsamere Wochen gegönnt,
zumal sich die hohen Herrschaften jetzt in die Städte verzogen, um sich hier
auf ihre Art zu vergnügen. Während aber der Vater und oft auch die Mutter zu
weiteren Hofarbeiten herangezogen wurden, konnten nun die übrigen Familienangehörigen
eigenen häuslichen Obliegenheiten nachkommen. Was gab es nicht da alles zu tun
und aufzuholen! Aber Finsternis und Kälte der langen Nächte ließen sie nicht
froh werden. Wohl hatte die ganze Familie über den Sommer ein bestimmtes Brenndeputat
erdient, doch es langte nicht, um die Wohnstube ausreichend zu erwärmen, und
sich solches vielleicht zusätzlich auf nicht erlaubten Wegen beschaffen zu wollen,
war sehr gefährlich, wurden dch schon für kleinste Vergehen die härtesten Strafen
diktiert. Schlechtes Talglicht andere Beleuchtungsmittel gab es nicht
war zudem sehr rar und musste für Notfälle. (Krankheit, Geburt usw.)
gespart werden.
Die Dorfschenke war meist die einzige Stätte geselligen Beisammenseins. Leider
haben Trunksucht und Kartenspiel viele Familien in größtes Unglück gestürzt
und so das ganze Elend noch verschlimmert. Das junge Volk vergnügte sich freilich
lieber auf den Spinnstubenabenden, die auch Lichtergänge oder "Rockagiehn"
genannt wurden. Literaten machen uns heute gerne weis, dass auf den Spinnstuben
das althergebrachte Brauchtum und gute Sitten gepflegt wurden. Es sei zugegeben,
dass hier Frohsinn, Gesang und das Minnespiel daheim waren, andererseits sind
aber auf solchen Abenden Dinge vorgefallen, die die Gerichte zu ahnden gehabt
hätten. Ähnlich war das Treiben auf den Volksfesten verschiedenster Art, die
nicht selten dann auf dem Tanzboden ein wüstes Ende nahmen und somit der Obrigkeit
die Handhabe gaben, mit drakonischen Verboten die "Lüsternheit, Sauf- und
Fresslust des gemeinen Pauernvolkes" zu bändigen. Berüchtigt waren insbesonders
die vielen Kirchweihveranstaltungen, die sich da jede Gemeinde ihren
eigenen Kirchweihsonntag hielt über die ganzen Herbstmonate erstreckten.
Josef II. sah sich daher veranlasst, den Sonntag der sogenannten "Kaiserkirchweih"
verbindlich für alle Dörfer zu verordnen.
Ansonsten ist die josefinische Zeit gekennzeichnet durch ein noch üppig blühendes
Sitten- und Brauchtum, charakterisiert durch längst verschüttete Werte echten
Volkstums. Alles, was mit Geburt, Taufe, Hochzeit, Krankheit, Tod und Jahresfestkreis
zusammenhing, fand Ausdruck in den mannigfachsten Bräuchen. Freilich war vieles,
was hierbei getan und geglaubt wurde, nach heutigen Vorstellungen purer Aberglaube.
Während man sonst im Alltag ziemlich lässig und unbekümmert war, war man aber
in der Befolgung von abergläubischen Gebräuchen geradezu überängstlich. Wenn
man heute so nachliest, was zum Beispiel bei Erkrankungen von Mensch und Tier
oder bei gruseligen Geisterbeschwörungen alles gemacht wurde, erschrickt man
über den unverantwortlichen Leichtsinn, beziehungsweise über die Torheiten der
damaligen Zeit. Aber wenn die Lasten des Lebens groß sind, dann wendet sich
der Sinn geheimnisvollen Dingen zu, die von den gequälten Menschen gläubigst
aufgenommen und weitergegeben werden. Bei den einfachen Menschen im Hochgebirge
war freilich der Aberglaube mehr Herzenseinfalt. So durchstöberten Steinsammler
die innersten Winkel des Gebirges nach gleißenden Erzadern und verborgenen Schäden
in Felsenklüften, die sich in der Johannesnacht von selbst öffnen sollten. Hin
und wieder sah man jetzt noch "Gold-Venediger" durchs Geklüft huschen.
In der Waldeinsamkeit erschienen den Holzschlägern die Waldweiblein und der
wilde Jäger oder die Seelen tödlich Verunglückter, beziehungsweise die Geister
Ermorderter. An den langen Winterabenden erzählte sich die Familie im trauten
Schein der Lampe Geschichten vom Klausenmann, der um eine Unglücksstätte strich,
von dem Wassermann, der seine Opfer in Teichen und Bächen durch tückische Strudel
in die Tiefe zog, vom Feuermann, der den schlafenden Bewohnern nächtlicherweile
den "roten Hahn" aufs Dach setzte, vom Alp, der Schuldige und Unschuldige
nachts in den Betten würgte, merkwürdigerweise aber selten oder nie von dem
Berggeist Rübezahl, der schon damals in der ganzen deutschen Welt als der spezifische
Schutzgeist des Riesengebirges bekannt war. Kaiser Josef II. kannte genau die
Nöte des untertänigen Landvolkes, auch die der Riesengebirgler. Die Sorge um
die Verteidigung der Nordflanke seines Reiches, die durch den Verlust von Schlesien
(1763) erheblich größer geworden war, bewog ihn zum Bau der Festung Josefstadt.
Schon während der Schlesischen Kriege und im "Kartoffelkrieg 1778"
war er in vielen Riesengebirgsgemeinden zu Gaste gewesen, wo er reichlich Gelegenheit
hatte, die allgemeine große Not zu studieren. Leider fällt in die Zeit seiner
Mitregentenschaft der unheilvolle Bauernaufruhr des Jahres 1775, der zudem im
Riesengebirge seinen Anfang nahm. Von der festen Oberzeugung ausgehend, dass
zur Behebung der Not in erster Linie dem Bauer geholfen werden müsse, traf schon
Maria-Theresia jene Maßnahmen, welche die Robot mindern und das Leben erträglicher
gestalten sollte. Das diesbezügliche Patent stellte es den Untertanen frei,
mit ihren Grundherren wegen des Frondienstes freie Abkommen zu treffen. Es wurde
in den Dörfern kundgemacht, aber von manchen Obrigkeiten unterschlagen. Darüber
erhitzten sich die Gemüter derart, dass binnen wenigen Tagen die Flamme des
Aufruhrs nur so loderte. Dass die letzte große Bauernrevolte ausgerechnet im
Riesengebirge ihren Anfang nahm, mag wohl etwas verwundern, denn man kann dem
Riesengebirgler bestimmt nicht nachsagen, er sei zum Rebellen geboren. Doch
ist es sein ausgesprochener Gerechtigkeitssinn, der ihn zu außergewöhnlichem
Tun befähigen kann. Der Aufstand von 1775, der sich in wenigen Tagen über ganz
Ostböhmen ausbreitete, hätte für das ganze Land .schlimme Folgen haben können,
wenn ihn die Regierung nicht sofort ohne Erbarmen durch das Militär niedergeschlagen
hätte. Sein Anführer war der berüchtigte Dorfrichter von Hertin, namens Nywlt.
Bei der Stadt Trautenau allein sind um die 70 Tote und Verwundete zu beklagen
gewesen. Hunderte andere aufrechte Bauern aus dem Riesengebirge und aus der
Braunauer Gegend fanden bei Clumetz und Prag ein schmähliches Ende, indem sie
erschossen, erschlagen, gehenkt, gerädert, ertränkt oder sonstwie zu Tode gemartert
wurden.
Das war das Ende des Freiheitstraumes unserer Väter vor 180 Jahren, und erst
die Väter von 1848 sahen dank eines Hans Kudlich die Freiheitssonne aufgehen.
Wenn wir uns heute als Heimatvertriebene die josefinische Zeit vor Augen halten,
dann wäre die Frage müßig, wer hat Schlimmeres erdulden müssen, unsere Väter
von damals oder wir? Alle Generationen vor uns wurden vom Schicksal schwer geprüft,
so wie das ganze deutsche Volk in seiner langen und gar oft leidvollen Geschichte.