Quelle: "Aus Rübezahls Heimat" Februar 1950

Bergdienst "Wiesenbaude"

Ein Erlebnisbericht von Herbert Beutel, Wiesenbaude

51 Menschen konnte ich während meiner Wiesenbaudenzeit das Leben aus höchster Bergnot retten. Bevor ich mein eigenes Lawinenerlebnis niederschreibe, gedenke ich all derer, die als einfache Söhne der Berge im großen Spiel um Tod oder Leben Höheres und Edleres einsetzten, wenn es galt, Menschen in Bergnot zu helfen. Es war das Lied vom braven Mann, der an sich zuletzt dachte und bei dem die Pflicht über das eigene Leben ging. Die edlen Triebkräfte mutiger Herzen vollbrachten Taten voll menschlicher Größe, die in ihrem selbstlosen und stillen Einsatz den höchsten Wert hatten. Bekannte und klangvolle Namen tauchen auf und ich will versuchen alle anzuführen, die im Bergdienst Wiesenbaude standen. Es waren vor allem dies meine beiden Onkels Emil und Eugen Bönsch, die jahrzehntelang den Wiesenbaudenbetrieb leiteten, die Skilehrer der Wiesenbaude mit Adolf Berger, dem mehrfachen Deutschen Skimeister, die mir unvergesslichen und vorbildlichen Brüder Adolf und Otto Berauer und der jüngste Bruder dieser beiden Söhne der Berge, Gustl Berauer, der spätere Skiweltmeister, Sagasser Oskar aus Petzer, Heinsch Walter aus Freiheit, Otto Hackel und Hansi Gottstein aus Oberhohenelbe, Wiesner Berti und Klein Franz aus Gross-Aupa und der unverwüstliche Ruhs Franz sowie der letzte von der Wiesenbaudenbesatzung, mein Vetter Ing. Hans Fuchs.

Das leuchtende weiße Schneekleid der Berge, das auf den Menschen nie seine Anziehungskraft verlieren wird, lässt nicht ahnen, welche Tücken und Gefahren sich unter dieser glitzernden Decke verborgen halten. Wenn wir in den Zeitungen einen kurzen Bericht lesen, dass der oder jener nach mühevoller und stundenlanger Arbeit der geschulten Rettungskolonne geborgen werden konnte, können wir uns nicht vorstellen, welche Gedanken den Verunglückten (sofern er noch bei vollem Bewusstsein war) durchzogen haben und wie er um die Erhaltung seines Lebens gekämpft hat, um Sieger zu bleiben gegen den, der glaubte, ihn schon in sein unendliches Reich aufnehmen zu können. Dieser Kampf, der in den Bergen allein leben heißt oder schwach sein und sterben, hat mir dennoch Hoffnung und Energie bewahrt auf erlösende Errettung. Bei vollem Bewusstsein über 6 Stunden lebendig unter einer Lawine begraben und so gesetzlos dem tieferen Sinn der Berge ausgeliefert . . . diesen Kampf im tobendem Schneesturm möchte ich nun schildern.

Der Schneesturm heult über den Hochwiesenberg. Die Januarnacht ist schon im Kommen und die Gespanne sind noch draußen — die Schlitten — die Kutscher. Sie bringen das täglich Notwendige zum Leben für die Kammbaude, die mit ihren Menschen und Gästen leben will und muss. Die Gespanne sind schon längst überfällig. Man muss ihnen unbedingt entgegengehen, ehe Nacht und Schneegewalt sie abschneiden. Die wenigen Baudengäste, verärgert durch das Sturmwetter, sitzen an den Tischen, trinken Kaffee und essen Kuchen und wissen kaum, dass da draußen eine ganze Kolonne für die paar Bissen der kommenden Tage einen verzweifelten Kampf kämpft. Die Rettungsmannschaft geht los und müht sich an den Markierungsstangen zur "Kapelle" hinauf, die zwischen Brunnberg und Hochwiesenberg gesiedelt ist. Oben ist der Sturm so rasend, da es unmöglich ist die Skistöcke einzukrallen, dass wir von der Rettungsmannschaft wie führungslose Wesen den Blaugrund hinabgejagd werden. Es bedarf eiserner Energien um abzuschwingen. Es gelingt . . .

Nun ist´s windruhig hier unten und nicht so hartes, blankes Eis wie oben an der Kammkippe. Wir schreien in den Flockentanz hinein, suchen, auseinandergetrieben durch die Abfahrt uns zusammen und steigen der Strecke zu, die die Proviantkolonne alltäglich nimmt. Höher hinaufkommend wirbelt der Sturm wieder wilder. Um uns ist die Undurchsichtigkeit des orgelnden Schneesturmes. Der Schnee rast so dicht, dass man in einem weißen Taumel geht und plötzlich einem Pferd in die Flanke rennt. Das Tier — Schnuppe im Schnee — eingesunken bis zum Bauch, ist weiß, schneeweiß, todmüde. Ein paar liebe tätschelnde Klapse auf den eisstarrenden Hals und schon werden die Skier abgeschnallt, tief eingerammt und vor gestampft.

Da ist auch schon der zweite Schlitten . . . der dritte — und ganz vorn stampfen wie Schemen mit wankenden Bewegungen die drei Kutscher in einer Windswehe umher. Sie treten den Schneeberg zusammen knietief — — — hüfttief — — —- sie schinden sich todmüde um den Weg für ihre Gespanne.

"Holla"— "Ihr!" Sie werden angerempelt, schwanken zurück . . . im Schutz des Pferdebauches mit Branntwein und Brot gelabt. Das geht alles furchtbar stumm zu, wie in einer Welt ohne Sprache, in der nur der Schnee im Sturm heulen darf. Wäre nicht das erste mal, dass die Gäule bis zum Hals eingeschneit, abgestochen werden müssen, wenn sie nicht schon geduldig und stumm in den Sielen erfrieren, wäre nicht das erste mal, dass einer von der Mannschaft taumelmüde einsinkt . . . einschläft . . . einweht . . . weg ist . . Meter um Meter wird vorgerückt bis die Kolonne die Kammhöhe erreicht. Da ist es geschafft. Die Baude ist nah. Das harte Eis lässt keine Windwehe hoch ansetzen.

Von diesen Rettungsarbeiten für unsere Gespanne unter schwierigsten Verhältnissen zurückkommend, musste ich meine weitere Pflicht, die Kontrolle des Turbinenhauses, noch erfüllen und den Bestätigungsanruf von dort nach der Wiesenbaude geben. Nur nicht in ein Wasserloch des Weißwassers treten. Die großen offenen gähnen mich schwarz an. Aber die kleinen haben schon eine weiße, dünne trügerische Decke. Ich hatte den Sturm im Rücken und wollte gerade den Bach überqueren und aus . . . es war geschehen. Breche durch, hör noch heulen . . Krachen . . Tosen . . Will Luft und kriege keine . . Es drückt! Luft! Schreien . . . Ich kann nicht. Würge an meiner keuchenden Lunge, sie hämmert wie ein rasender Motor. Im Gekeuch meiner Lunge hör ich ganz leises Knistern. Gott im Himmel . . das ist ja Eis! Nun hör ich wieder ganz deutlich das Weißwasser unter mir rauschen . . . Du wirst durchbrechen, der viele weiche Schnee rutscht nach . . . und wirst noch elend ertrinken. — Eingepresst in Schnee- und Eismassen fand ich mich, am Kopf und allen Gliedern schmerzend wieder. Kaum die Augen konnte ich öffnen, so dicht presste sich die Schneelast auf die Lider. Eine Lawine hatte sich gelöst und mich unter Schnee- und Eismassen begraben. Durch die ungeheure Wucht des Schnees war ich über einen Felsblock, der aus dem Wasser herausragte, geschleudert worden, meine Beine waren mir verdreht und der Körper lag im Überbruch, der Kopf wieder tief unten, mit dem Gesicht zum Glück nach oben. Die rechte Hand hatte ich vor dem Mund gepresst, die linke war an der rechten Schulter fest eingeklemmt. In dieser verzweifelnden Lage konnte ich mich, durch den Druck der Schneemassen wie in Zement eingegossen, nicht einen Millimeter bewegen. Gut eineinhalb Meter Schnee lagen auf mir. Das Eis knistert wieder. Die Lunge ist wie ein Bleigewicht. Ich stürze in eine urtiefe Schlucht der Verzweiflung. Von den Füßen kriecht langsam eine eisige Kälte aufwärts. Das Bewusstsein schwand und kam zurück. Ich wollte denken, fühlen — nichts — alles im Eis und Schnee erstorben; mehr und mehr verklärt und vergeistigt sah ich die großen Gegensätze — Leben und Tod — Mensch und Göttlichkeit. Ich konnte nur röcheln. Langsam klärte sich jedoch der Sinn wieder auf, der unbändige Lebenswille siegte, gewann die Oberhand, Energie bestimmte die Versuche, Handlungen zu begehen, die mich vielleicht retten konnten.

Mit einer Reflexbewegung hatte ich beim Sturz die rechte Hand vor den Mund gepresst. Der heiße Atem kläfft, taut den Schnee um meine Hand etwas auf. Ich kann mit dem Zeigefinger sachte wackeln. In 6 ewigen Stunden kratze und schabe ich Schnee und Eis über den Mund weg. Die Haut auf der Hand geht in Fetzen. Da merke ich, dass um mich ein Eispanzer geworden ist. Der Körperwärme hat den Schnee um mich 1 bis 2 cm getaut, die Eiskammer ihn wieder erstarren lassen. Die Lunge arbeitet immer schwerer. An den Fingern sind die Nägel schon alle abgeschabt und abgerissen Ich esse Schnee und bohre einen kleinen Kanal nach oben, so lang mein Arm ausreichte. Auf einmal weht es mir weich ins Gesicht. Ein frischer Lufthauch stiebt sich an meine Lunge und aus der Grabesstille hör ich Sturm und Schnee ihren inbrünstigen Todesreigen heulen. Mein hoch gebohrter Kanal war von oben leicht durchgebrochen. Ich wage das Wunder nicht auszukosten. Sterbensmüde, körperlich und seelisch bis zum Rest erschöpft, blieb ich minutenlang tatenlos liegen, nur die Nerven arbeiteten fieberhaft, alle letzten Kräfte gewaltsam anspannend um wach zu bleiben, um dem Einschlafen und damit Erfrieren zu entgehen. Ich rutsche in meinem Eissarg hin und her, die Ski als unlösbare Fesseln an den Füßen. Der Sturm, der droben mit unverminderter Kraft heult, rumort in meinem Sarg hinein, nimmt ganz wenig Schnee . . rippelt . . schiebt ihn . . . schanzt das winzige Atemloch wieder zu. Diese Grausamkeit. Mit Todesverachtung und nicht achtend der Schmerzen, versuchte ich mit dem Arm höher zu kommen. Vergeblich!! Wieder langsam Luftmangel, dieses Notwendigste zum Leben. Das Atmen wird schwerer, der Kopf dröhnt. Erneut preisgegeben dem Ersticken. Die Lunge schlappt, der Wille will von mir fliehen.

Unterdessen war man auf der Wiesenbaude um mein langes Ausbleiben in Sorge gekommen. Der Zitherspieler spielt den Gästen froh zum Tanze auf. Aufgeregte Lampen in dem Hausflur baumeln nach der Baudentür und schwanken mit der Rettungsmannschaft raus. In letzter und schwerster Minute traf die Rettungsmannschaft ein, doch noch einmal wurde ich gequält und zur Verzweiflung gebracht. Man fuhr über mir auf dem Schnee umher, ich hörte es deutlich, man rief, Herbert . . . und man fuhr weiter. Keiner hatte mich oder ein Zeichen von mir gefunden, immer weiter entfernte sich rufend die Kolonne, meine Verzweiflung wuchs, ich war verloren. Im Frühjahr würde man mich als Leiche finden, von den Schneeschmelzen irgendwohin gespült oder auch mein Grab Opfer der Berge, ein Opfer des weißen Todes. Jährlich fordert er seine Zahl. Grauenvoll, dies auszudenken und die Rettungsmannschaft über sich hinweggehen zu hören. Rufe erstickt der Schnee, das weiße Grab schluckt alles auf, jedein Schrei verzweifelnder Seele, nichts dringt durch. Doch — horch — sie kommen zurück. Die Stimmen kommen wieder nahe . . . weg . . . Das alles reißt mit harten Griffeln in den letzten Widerstand der Nerven. "Hier liegt sein Stock!" verteufelt dicht an mir, die Stimme eines Retters. Jetzt kriechen sie auf allen Vieren in dem Schnee entlang. Wie Hunde. Sie unterhalten sich: "Lawine" . . . verschüttet . . . er muss noch leben."

Nun sind sie über mir. Ich röchle. — Meine Lunge muss noch lauter sein. Stöcke und Sonden stoßen im Schnee herum. Einer trifft mein verwehtes Atemloch. "Hier!" Ein Mund flüstert wie aus weiter Ferne: "Lebst du noch . . ?" Sie müssen meine kollernde Lunge hören.

Onkel Emil, Otto Berauer, Ruhs Franz, Wiesner Adalbert und Klein Franz beginnen nun ihr Rettungswerk. Ich bin gerettet, dem Leben wiedergegeben, dem weißen Tod entrissen. Außer einigen Rippenbrüchen, inneren Blutergüssen und beiden erfrorenen Händen und Füßen kam ich von diesem furchtbarem Erleben heil davon. Das Leuchtelicht der Baude strahlt uns als Wegweiser leuchtend in finsterer Nacht entgegen. Vier Wochen später sitze ich schon wieder bei den Gästen. Da erscheint mein Onkel Emil, "Du", sagt er, "Gäste der Spindlerbaude sind überfällig!" Aufgestanden, und noch mit Leukoplastverbänden bepflastert gehts mit Otto Berauer an ein neues Rettungswerk.

Schneesturm orgelt und der Zitherspieler unterhält die Gäste . . . .

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