Einreicher: Christian Tappe, Kempen am Niederrhein.

Die Hochwasserkatastrophe vom 29./30. Juli 1897 im Riesengebirge aus der Sicht eines 17-jährigen Schülers, welcher als Tourist zugegen war:

Erlebnisse eines Brombergers im Riesengebirge während der jüngsten Wassernot

Von Konrad Sieblist, 1880 – 1969
(Veröffentlicht in der Bromberger Tageszeitung "Ostdeutsche Presse" am 18. und 19. August 1897)

(Die Rechtschreibung entspricht dem Original.)

Die Wolkenbrüche, die in den letzten Tagen des Juli über unsere schöne Nachbarprovinz Schlesien niedergegangen sind, haben in den Thälern des Riesengebirges, das so vielen Brombergern von früheren Reisen her in freundlichem Gedächtniß ist, furchtbare Verwüstungen angerichtet. Seit Menschengedenken haben die entfesselten Elemente kein Unglück von solchem Umfange in die herrlichen Thäler des Riesengebirges getragen. Zwar haben kurze Zeitungsmeldungen, amtliche Berichte etc. einen allgemeinen Begriff von dem Unglück zu geben versucht, doch sind sie nicht geeignet, ein einigermaßen getreues Bild von der ganzen ungeheuren Verwüstung, der geradezu unermeßlichen Größe des Unglücks zu geben. Es möge daher einem Bromberger, der zu jener Zeit als Tourist Rübezahls Berge durchzogen und mit eigenen Augen das Unglück geschaut hat, vergönnt sein, durch die Schilderung des Erlebten und Gesehenen dem Leser ein getreues Bild des furchtbaren Naturereignisses und seiner verhängnißvollen Folgen zu geben. Vielleicht, daß damit das Mitgefühl des Lesers erweckt und die edlen Bemühungen unterstützt werden, die in der Eröffnung von Sammlungen für die schwer heimgesuchten Mitmenschen sich bethätigen.

Schon am Dienstag, 27. Juli, gegen Mittag, trübte sich das bis dahin herrliche Wetter. Der Ausblick in die Thäler wurde in unglaublich kurzer Zeit durch aufsteigende Nebel gänzlich verhüllt, die ein lebhafter Südostwind gegen den Kamm des Riesengebirges heranwälzte. Bald ergoß sich in Strömen der Regen hernieder, der bis Freitag anhielt und in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag seinen Höhepunkt erreichte und zum Wolkenbruch ausartete. Fuchtbar wütheten Sturm und Regen um die Bauden auf dem Kamme des Gebirges. Die zahlreichen Touristen, die sich im Gebirge befanden, beeilten sich, in der nächst erreichbaren Baude ein Unterkommen zu finden, ohne zu ahnen, dass sie mehrere Tage dort würden festgehalten werden. Durch Thüren, Fenster, Dächer und selbst Mauern drang der vom Sturm gegen die Bauden gepeitschte Regen und floß durch mehrere Stockwerke hindurch auch in die geschütztesten Winkel der unteren Räume. Jeder Stoß des Sturmes drohte die Gebäude wegzureißen und alles Lebende unter den Trümmern zu begraben. Zwei Tage und zwei Nächte dauerte das Unwetter an, und niemand wagte es, die Bauden zu verlassen; dennoch blieben alle noch unversehrt, und kein Menschenleben war hier oben zu beklagen. Am Freitag war die Gewalt des Sturmes gebrochen, aber dichter Nebel hüllte noch die Berge ein und machte jeden Ausblick unmöglich; trotzdem man kaum zwanzig Schritte sehen konnte, brachen überall die Reisenden auf, um den Abstieg in das Thal zu versuchen und die Vebindung mit der Außenwelt zu erreichen, denn selbst die Briefträger waren ausgeblieben, der Telegraph unterbrochen und sogar die Lebensmittel begannen knapp zu werden und die Brothvorräte waren erschöpft. Bald jedoch kehrten die meisten muthlos zurück; der Abstieg vom Gebirge erschien vorläufig unmöglich, da die Wege durch Fels- und Geröllmassen verschüttet und alle Brücken und Stege von den gewaltig angeschwollenen Bächen weggerissen waren. Erst nach manchem missglückten Versuche gelang es einigen Touristen, auf dem Weg über die Brotbaude nach Arnsdorf und so ins Thal zu gelangen. Alle drängten jetzt auf diesem Wege hinab, um so bald als möglich die Eisenbahn und damit den Weg nach der Heimat zu erreichen. Schnell leerte sich das Hochgebirge, und jetzt endlich erfuhren die wenigen Zurückgebliebenen durch Boten, welche den Bauden wieder Nahrungsmittel zuführen konnten, welch´ furchtbare Verheerungen das Unwetter in den Thälern angerichtet hatte.

In Spindelmühle, das von allen Seiten durch hohe Berge eingeschlossen und in einem tiefen Thalkessel liegt, hatten die Wassermassen der Elbe und des Weißwassers mehrere Häuser zertrümmert. So war das Hotel "Zum Deutschen Kaiser", in dem sich in der Schreckensnacht etwa hundert Fremde befunden hatten, vollständig weggerissen worden. Nur wenige hatten sich und ihre Habe rechtzeitig retten können; die Mehrzahl war von den hereinbrechenden Wassermassen im Schlafe überrascht worden. Über 70 Fremde, meistens Österreicher, wateten, nur mit dem Nothdürftigsten bekleidet, bis an die Brust durch das Wasser. Alle Kleider und Werthsachen der Reisenden, die Kasse des Wirtes, kurz alles Werthvolle wurde ein Raub der Wellen. Ebenso wurde in dem Gasthof "Zur Krone", in dem der Verfasser selbst einen Tag vor der Unglücksnacht noch übernachtet hatte, ein großer Theil weggespült. Bis auf einen Kellner, der in den Wellen verschwand, waren in beiden Gasthöfen Menschen nicht zu beklagen. Schlimmer schon erging es den Bewohnern von St. Peter bei Spindelmühle, wo die Abflüsse des steilen Ziegenrückens, das Klausenwasser, eine ganze Anzahl von Häusern wegriß und mehrere Personen fortschwemmt.

Nicht weniger furchtbar haben die Wassermassen auf der anderen Seite des Gebirges, in Hirschberg, Schmiedeberg, Krummhübel etc., gewüthet. Hölzerne, eiserne, ja sogar steinerne Brücken sind weggerissen worden, viele Häuser sind unterspült und dann zusammengebrochen, Telephon- und Telegraphenleitungen sind unterbrochen, die Eisenbahndämme hat das empörte Element zerrissen, Geröll bedeckt die Felder und Schlamm die Wiesen. Die Frucht der Arbeit von Menschenaltern ist in einer Nacht vernichtet, und nicht in Jahrzehnten lässt sich der Schaden wieder gut machen.

Am grauenhaftesten zeigten sich die Folgen der Wolkenbrüche aber doch in dem am Abhang der Schneekoppe gelegenen Riesengrund und in dem sich daran anschließenden Aupathal. Der Riesengrund ist ein tiefer Thalkessel, der von der Schneekoppe und dem 1446 Meter hohen Koppenplan im Norden, dem bis zu 1560 Metern ansteigenden Steinboden im Westen und dem nahezu 1400 Meter hohen Rosenberge im Osten eigeschlossen und nur nach Süden in schmaler Enge offen ist. Die Thalsole zieren saftige Wiesen, neben armseligen Hütten der einzige Besitz der armen Bewohner, die im Sommer als Träger und Führer ihr kärgliches Brot zu verdienen suchen. Südlich der sogenannten "Bergschmiede", eines kleinen, ziemlich hoch am Wege von der Riesenkoppe ins Thal gelegenen Wirthshauses, stehen drunten im Thal neun bewohnte Hütten und auf fünf derselben nahmen in der Unglücksnacht mächtige Erdlawinen ihren Weg. Zwei der Bauden sind völlig verschüttet oder fortgerissen, eine ist stark beschädigt worden. Die beiden anderen Lawinen sind zum Glück unterwegs von den Felsen und Bäumen aufgehalten worden.

Der Besitzer der einen verschütteten Baude befand sich während des Wolkenbruchs in der Riesenbaude auf dem Kamm des Gebirges, wohin er tags zuvor Fleisch getragen hatte und wo das Unwetter ihn festhielt. Am Morgen nach der Sturmesnacht stieg er eilends ins Thal hinab, voll Angst um die Seinen. Auf halbem Wege zerreißt plötzlich vor ihm der Nebelschleier, er schaut nach seinem Besitzthum aus und erblickt nicht als Erd- und Steinmassen und entwurzelte Bäume. Sein Haus, seine Äcker, alles ist durch die Lawine bedeckt. In rasendem Lauf eilt er ins Thal hinab, und dort finden ihn, der von dem Schrecken und den Anstrengungen ohnmächtig zusammengebrochen ist, seine Nachbarn. Kaum ist er wider zu sich gekommen, so fragt er nach seiner Familie. Als er hörte, dass alle, seine Eltern, sein Weib und seine zwei Kinder, von der Lawine begraben sind, will er sich, rasend vor Jammer und Verzweiflung tödten, und nur mit Mühe kann er davon zurückgehalten werden. Rastlos sucht er dann mit Hülfe seiner Nachbarn nach den Leichen seiner Lieben, von denen er, als der Verfasser zwei Tage später dorthin kam, aber nur seine Frau, die offenbar im Schlafe von der Lawine überrascht worden war, gefunden hatte. Auch die übrigen vier Personen sollten bald darauf als Leichen unter Schutt und Erdmassen gefunden worden sein.

Nicht weniger schrecklich sah es in dem anderen verschütteten Hause aus. In diesem Haus befand während der Unglücksnacht der Besitzer mit seiner Frau und seinem halbjährigen Kinde sowie eine Leierkastenfrau. Durch den furchtbaren Sturm erwachten in der Nacht die Bewohner dieses Hauses und versuchten, wie von einer bösen Ahnung gequält, es schleunigst zu verlassen, was durch die Gewalt des Windes ihnen jedoch unmöglich gemacht wurde. In die Stube zurückgekehrt schrie plötzlich die Frau laut auf: "Die Rose (d.h. der Rosenberg) kommt." Vergebens versuchte sie der Mann zu beruhigen, als auch schon ein furchtbares Getöse erscholl. Das Leierkastenweib warf sich betend auf die Knie, der der Bauer griff instinktiv nach seiner Frau, um sie an sich zu reißen, – da ging auch schon die Lawine über sie hinweg, verschüttete die Insassen des Hauses mit Erde, Steinen und Schlamm und riß das Dach des Gebäudes fort. Am Morgen kamen die Nachbarn herbei und gruben die Armen aus. Die Leierkastenfrau und das Kind, das die Mutter auf den Armen hielt, waren todt, der Mann und seine Frau wie durch ein Wunder am Leben erhalten. Als sie nach der Katastrophe wieder zur Besinnung gekommen waren, stand die Frau bis zum Kinn, der Mann bis fast zum Halse im Schlamm und Geröll begraben. Mit Mühe war es dem letzteren nach geraumer Zeit gelungen, seine rechte Hand aus der Erde herauszuarbeiten und mit ihr, so gut es ging, mit unsagbarer Anstrengung die Nacht hindurch fortwährend eine kleine Rinne vor dem Mund seiner Frau zu schaufeln, damit diese nicht durch das Wasser und den Schlamm erstickt werde. Schwer verletzt wurden beide am nächsten Tage ausgegraben, die Frau bewußtlos, denn Mund, Nase, Augen und Ohren waren durch Schlamm fast verstopft, dennoch ist sie mit dem Leben davongekommen.

Die ganze Wassermasse in diesem Theile des Gebirges fand ihren Abfluß durch das Aupathal, in das wir von der Schneekoppe nur auf großen Umwegen, häufig bis an die Knie im Wasser watend oder bis über die Knöchel in Moor und Schlamm einsinkend, nach fast sechstündigem Marsche gelangten. Mit furchtbarer Gewalt hat hier das Wasser ungeheure Felsblöcke und 20 bis 30 Meter lange Tannen von gewaltigem Umfange viele Kilometer in das einst blühende Thal hinabgewälzt. Kein Haus, kein Damm, keine Mauer, nichts konnte hier dem furchtbaren Anprall widerstehen. An hundert Häuser sind hier eingestürzt und theils vollständig vom Erdboden verschwunden, theils zeugen traurige Ruinen, gestützte Wände, gähnende Kellergewölbe von dem Wüthen des entfesselten Elements. Viele Menschenleben sind hier zu bedauern; so sind in Marschendorf in einem einzigen Hause nicht weniger als siebzehn Personen von den Wellen verschlungen  und unter dem Geröll der Aupa oder den Trümmern des Hauses begraben worden. Überhaupt sieht es am furchtbarsten in Marschendorf aus, wo in der Nähe des Wassers kaum noch ein unverletztes Haus steht. Von einem Gebäude ist die obere Hälfte weggerissen, und der Vorübergehende sieht oben auf dem noch stehenden Theile den Rest eines Zimmers, in dem nur noch eine Wiege und ein Schrank vorhanden sind. Ein Wall von Balken, Brettern, Bäumen Geröll usw. hat sich quer gegen das Haus gelehnt, das dem Druck widerstand. Die darüber brausenden Wassermassen rissen den oberen Theil des Hauses fort und verwüsteten das Innere des Restes.

In Groß-Aupa fanden wir in dem Gasthaus zum Aupathal für die Nacht Unterkunft. Links und rechts von diesem Gasthause waren die Häuser fortgerissen, von der Fahrstraße sind  nur noch traurige Reste vorhanden. Eine schwache Nothbrücke vermittelte den Verkehr mit dem jenseitigen Ufer, wo Ruine sich an Ruine reihte. Wo früher die Aupa floß, war nichts als Geröll, Felsenmassen, Balken von fortgerissenen Gebäuden, entwurzelte, von den Steinen völlig geschälte Bäume zu sehen; die Aupa dagegen ergoß ihre Wasser, wo vorher die Straße dahinführte und freundliche Häuser das Thal schmückten. In dem Gasthofe hatte sich im Saal die "Finanzwache" niedergelassen, deren Thätigkeit an jenem Tage sich darauf beschränkte, die Uniformen und geretteten Bettreste zu trocknen und vom Schmutze zu befreien; das steinerne Amtshaus der Wache war theilweise vom Wasser fortgerissen, der Rest war eingefallen, im Keller flutete das schlammige Wasser der Aupa. Neben dem Hause der Finanzwache lagen die traurigen Trümmer einer Mühle und die von dem Hause allein übrig gebliebene Vorderwand einer Bäckerei. Von einer großen Sägemühle war nichts mehr zu sehen; Haus, Sägewerk, Holzvorräthe, alles war fortgeschwemmt bis auf die Grundmauern, und friedlich floß darüber die Aupa. Es bedurfte der wiederholten Versicherung unseres Führers, bis es uns glaubhaft erschien, dass hier noch vor vier Tagen eines der größten Sägewerke des Aupathales gestanden hatte. Am Tische saß am Abend der Besitzer einer Mühle aus dem oberen Aupathale, die dem gleichen Schicksale verfallen war; er und die Seinigen hatten das nackte Leben gerettet, anwesende Sommergäste hatten ihm die Kleider geschenkt, die er jetzt trug. Mit bewegten Worten, noch immer am ganzen Körper vor Aufregung und Kälte zitternd, schilderte er, wie das Unglück am Mittwoch Abend über sein Haus hereinbrach. Frau und Kinder hatte er noch rechtzeitig zu Verwandten in der Nähe gesandt; er selbst hatte versucht, alles Vieh, seine Vorräthe, seine Habseligkeiten zu retten: alle Mühe war vergebens, in weniger als einer halben Stunde war vom Hause nichts mehr übrig geblieben; Haus, Mühle, Stallung, Vieh, Vorräthe, alles verschlangen die grausamen Wassermassen, unterstützt von mächtigen Felsblöcken und Stämmen, welche die Aupa mit sich führte. Wie vernichtet, schloß der der Müller seine Schilderung mit den Worten: "Durch jahrelange Mühe und hundert schlaflose Nächte hatte ich es so weit gebracht, dass die Meinigen keine Sorgen zu haben brauchten; alles in der Wirthschaft hatte ich jetzt doppelt, und nun ist alles dahin, und ich stehe mit den Meinen wieder einmal am Bettelstabe!" Thränen brachen die Stimme des vorher so energischen Mannes.

Noch am gleichen Abend bildete sich in dem Gasthause zu Groß-Aupa ein Hülfskomitee; die anwesenden vier Fremden legten 100 Mark zusammen, und angesichts der mit diesem Erfolge erreichten Beseitigung der dringendsten Noth, der Fernhaltung des unerbittlichen Hungers von den nächst wohnenden Familien kam uns die Wahrheit jenes jetzt so oft gehörten Mahnrufes "Doppelt giebt, wer schnell giebt!" so recht zum Bewusstsein. Möchten viele, die diese Schilderung lesen, dieses Spruches eingedenk sein, denn schnelle Hülfe thut in den unglücklichen Gegenden dringend noth.

Da die Fahrstraße im Thal, die erst vor wenigen Jahren mit viel Kosten erbaut worden war, mit sämtlichen Brücken von den Fluten fortgerissen war, so dass nur noch kurze Stücke daran erinnerten, dass hier früher eine prächtige Chaussee den Verkehr im Thal vermittelte, so erreichten wir erst auf Umwegen über das Gebirge, über die Bodenwies- und Krausebauden am Sonntag das Dörfchen Dunkelthal und von da das unglückselige Marschendorf. Hier trafen wir den Besitzer der am Zusammenfluß der Großen und Kleinen Aupa gelegenen Kreuzschenke, der uns in bewegten Worten schilderte, welche Noth er ausgestanden habe und wie wunderbar sein Haus vor dem Einsturz bewahrt geblieben. Weiter abwärts gähnten uns die Trümmer des massiv gebauten Bezirksamtes entgegen, das früher jenseits der Straße lag, an dem sich aber jetzt die brausenden Wogen der noch immer reißenden Aupa brachen. Das daneben liegende Haus des Bürgermeisters war gänzlich verschwunden, nicht einmal von den Grundmauern war etwas zu gewahren. Mit dem Hause war ein schwerer Geldschrank fortgerissen worden, der große Summen enthielt und der am vierten Tage nach der Unglücksnacht noch nicht aufgefunden war. Dann folgten die Trümmer von ganzen Häuserreihen; der angelegte Nothpfad, der den Verkehr auf dem rechten Aupathale ermöglichte, führte durch das Untergeschoß halb fortgerissener Gebäude, über gänzlich verschlammte Gärten, wand sich um gewaltige Berge von Trümmern, Balken Steinen, Möbelresten, die durch Schlamm, Heu, Stroh etc. zu einem wilden Chaos verschlungen waren und unter den verunglückte Menschen ihr Grab gefunden hatten. Die mit großer Mühe und vielen Kosten hergestellten Ufermauern, die Jahrhunderten zu trotzen schienen, waren fortgerissen, und tief in die Abhänge hatte das Wasser sich einen Weg gebahnt. Weiter unten in Freiheit, dem Endpunkt der Bahn von Trautenau, war die Zahl der fortgerissenen und beschädigten Häuser zwar geringer als droben in Marschendorf, aber hier hatten die Fluten den fruchtbaren Boden der Äcker und Wiesen, den sie im oberen Thal fortgerissen hatten, als Schlammmasse, die alles erstickte, abgelagert. Auf dem Bahnhof in Freiheit, wo der Betrieb mehrere Tage eingestellt worden war, wurden die Gleise aus fußhohem Schlamm herausgegraben. Die steinerne, von den Fluten weggerissene Brücke zwischen dem Ort Freiheit und dem Bahnhof war von Prager Pionieren bereits durch eine schwankende Nothbrücke aus Holz ersetzt. An den Zugängen zu der Nothbrücke hatten sich führende Pioniere mit Tellern aufgestellt und eine Sammlung kleiner Münzen von den Passierenden zu Gunsten der Verunglückten improvisiert.

Ähnlich wie in Freiheit sah es in dem weiter abwärts gelegenen Trautenau aus; auch hier waren noch zahlreiche Gebäude durch die Wassermassen, die Balken und das Geröll schwer beschädigt und hatten von den Bewohnern verlassen werden müssen, doch war der Schaden mit dem in Groß-Aupa und Marschendorf nicht mehr zu vergleichen: nur die Felder sahen hier unten arg verwüstet aus; was die Fluten nicht fortgerissen hatten, bedeckte eine dicke Schicht grauen Schlammes, der alles Leben zu ertödten schien.

Jedenfalls beläuft sich der Schaden allein in den von uns besuchten Gegenden auf Millionen von Mark, und es wird jahrelanger, unermüdlicher Thätigkeit bedürfen, um die Spuren der heurigen Wassernoth, welche in diesem Jahrhundert ihres gleichen nicht hat, einigermaßen zu verwischen. Beachtet man, daß das Gebiet, welches von den entfesselten Elementen verwüstet worden ist, ein sehr ausgedehntes ist, so wird man begreifen, daß staatliche Hilfe nicht ausreicht, die schlimmsten Noth zu steuern, und daß die Privatmildthätigkeit in weitesten Maße helfend eingreifen muß. Bei der großen Noth aber, die überall in dem weiten verwüsteten Gebiet herzbrechend in die Erscheinung tritt, sollte jeder, dem das Elend der Armen zu Herzen geht, sein Scherflein beisteuern und das Wort bethätigen: "Doppelt giebt, wer schnell giebt".

Anmerkungen:

Die Jahrhundertkatastrophe:

"Die Hochwasserkatastrophe, die in der Nacht vom 29. zum 30. Juli 1897 über das Gebirge hereinbrach übertraf an Ausdehnung und Zerstörungswut alle ihre Vorgängerinnen im neunzehnten Jahrhundert. Innerhalb 24 Stunden verursachten die Fluten auf preußischer Seite einen Schaden von 10 Mill. Mark, im böhmischen Riesengebirge verschlangen sie 120 Menschenleben und etwa 7 Mill. Gulden an Hab´ und Gut ... Die größte Tagesmenge an Niederschlägen [seit Beginn der Messungen bis 1905] brachte der Wolkenbruch vom 30. Juli 1897, und zwar Prinz-Heinrich-Baude 224 und Schneekoppe 239 mm [entspricht Liter pro Quadratmeter, bei einer Jahresdurchschnittsmenge von etwa 1000 mm]."

Quelle: P. Regell "Das Riesen- und Isergebirge", Seite 22 ff, Velhagen & Klasing, 1905


Über den Verfasser:

Konrad Sieblist, geboren 1880 in Konstantinopel, legte im Jahr 1897 in Bromberg mit bereits 17 Jahren das Abitur ab und bekam als Geschenk dafür von seinem Vater, einem preußischen Postrat, die Reise ins Riesengebirge finanziert. Im gleichen Jahr begann er ein Jurastudium, promovierte mit 24 Jahren und war ab 1914 für 25 Jahre lang Bürgermeister der sächsischen Stadt Oschatz. Er starb 1969 in Dresden.

Die Wanderung begann er am 25. August 1897 in Bad Warmbrunn. Sie führte über die Ruine Kynast und dem Kochelfall nach Schreiberhau. Am nächsten Tag besuchte er die Neue Schlesische Baude und die Schneegrubenbaude mit Ziel Spindelmühle. Am 27. übernachtete er dort im Hotel "Zur Krone" um am darauf folgenden Tag zur Prinz-Heinrich-Baude aufzusteigen. Zufällig erlebte er in dieser Baude die Unwetternacht vom 29. zum 30. August. Am 31. bestieg er die Schneekoppe um dann durch den verwüsteten Riesengrund nach Groß-Aupa abzusteigen. Dort verweilte er eine Nacht um dann über Freiheit, Trautenau in das Heuscheuer-Gebirge weiterzureisen. Auf alten Ansichtskarten, die noch vorhanden sind, hat er die Stationen festgehalten. Das Unwetter beeindruckte ihn derart, das er dieses Erlebnis niederschrieb. Den Artikel schickte er an seine Heimatzeitung, welche sie in zwei Teilen abdruckte. Er war stolz auf seine erste Veröffentlichung, deshalb hob er die Zeitungen auf. Sie sind heute noch vorhanden.

Im Andenken an meinen väterlichen Freund
Christian Tappe,

Kempen am Niederrhein 08.11.2004

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